Seite 230 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
In Christi Tagen war die Wahrheit unbeliebt. Sie ist es auch
heute. Sie war es immer, seit Satan zum ersten Mal dem Menschen
Abneigung gegen sie einflößte, indem er ihnen Lügen darbot, die zur
Selbsterhöhung führten. Stoßen wir nicht auch heute auf Theorien
und Lehren, die nicht im Worte Gottes gegründet sind? Die Men-
schen hängen ihnen ebenso beharrlich an wie die Juden damals ihren
Überlieferungen.
Die jüdischen Führer waren voll geistlichem Hochmut. Ihr Stre-
ben nach eigener Ehre zeigte sich sogar bei ihrem Dienst im Tempel.
In der Synagoge beanspruchten sie die besten Plätze. Auf den Märk-
ten wollten sie gegrüßt werden, und es tat ihnen wohl, ihren Titel
aus dem Munde anderer zu hören. Weil echte Frömmigkeit schwand,
galt ihr Eifer mehr und mehr ihren Überlieferungen und religiösen
Formen.
Ihr Verständnis war durch eigensüchtige Vorurteile getrübt; des-
halb vermochten sie die Kraft der überzeugenden Worte Christi nicht
mit seinem demütigen Leben in Einklang zu bringen. Sie begriffen
nicht die Tatsache, daß echte Größe auf äußere Zurschaustellung
verzichten kann. Die Armut dieses Mannes hielten sie für völlig
unvereinbar mit seinem Anspruch, der Messias zu sein. Sie fragten
sich, was seine Anspruchslosigkeit bedeute, wenn er tatsächlich der-
jenige war, der er zu sein vorgab. Was würde aus ihrem Volk werden,
wenn er wirklich auf jede bewaffnete Streitmacht verzichtete? Wie
könnten die Macht und der Glanz, welche so lange erwartet worden
waren, die Völker veranlassen, sich der Stadt der Juden zu beugen?
Hatten nicht die Priester gelehrt, daß Israel die Herrschaft über die
ganze Erde ausüben sollte? Sollten sich die großen Religionslehrer
etwa geirrt haben?
Aber nicht nur der Mangel an äußerem Glanz in seinem Leben
veranlaßte die Juden, Jesus zu verwerfen. Er war die Verkörperung
der Reinheit, sie aber waren unrein. Er lebte als Beispiel makello-
ser Unbescholtenheit unter den Menschen. Sein fleckenloses Leben
ließ einen Lichtschein auf ihre Herzen fallen. Seine Aufrichtigkeit
enthüllte ihre Unaufrichtigkeit. Sie offenbarte die Hohlheit ihrer
anmaßenden Frömmigkeit und deckte vor ihnen das verabscheu-
ungswürdige Wesen des Unrechts auf. Ein solches Licht war uner-
wünscht.
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