Seite 290 - Das Leben Jesu (1973)

Basic HTML-Version

286
Das Leben Jesu
begierig, die Wahrheiten zu erfassen, die sie allen Völkern und allen
Generationen verkündigen sollten.
Heute nun hielten sie sich besonders zu ihrem Herrn, da sie fühl-
ten, es würde sich etwas Außergewöhnliches ereignen. Sie glaubten,
daß das Reich Christi bald aufgerichtet würde, und aus den Vorgän-
gen vom Morgen vermuteten sie nun eine entsprechende Äußerung
darüber. Große Erwartung herrschte unter den Zuhörern. Die ge-
spannten Gesichter zeugten von tiefer Anteilnahme. Als sich alle
an dem grünen Abhang niedergelassen hatten und auf Jesu Wor-
te warteten, wurden ihre Herzen mit Gedanken an die kommende
Herrlichkeit erfüllt. Es waren Schriftgelehrte und Pharisäer unter
ihnen, die dem Tage entgegensahen, der ihnen die Herrschaft über
die verhaßten Römer bringen und die Reichtümer und die Pracht
des größten Weltreiches zu eigen geben würde. Die armen Land-
leute und Fischer hofften ihrerseits auf die Versicherung, daß ihre
elenden Hütten, die kärgliche Nahrung, das mühevolle Leben, die
Furcht vor der Not vertauscht würden gegen Wohnungen des Über-
flusses und Tage der Sorglosigkeit. Sie hofften, daß Christus ihnen
an Stelle ihres groben Gewandes, das ihnen am Tage Kleid und in
der Nacht Decke war, die reichen und kostbaren Gewänder ihrer
Unterdrücker gäbe. Alle Herzen wurden von der stolzen Erwartung
ergriffen, daß Israel bald als das auserwählte Volk des Herrn von
allen Völkern geehrt und Jerusalem zur Hauptstadt eines Weltreichs
erhoben würde.
Christus enttäuschte diese Hoffnung auf irdische Größe. In der
Bergpredigt versuchte er, ihre durch falsche Belehrung entstandene
Vorstellung zu zerstreuen und seinen Zuhörern einen richtigen Be-
griff von seinem Reich und seinem persönlichen Charakter zu geben,
ohne dabei den Irrtum des Volkes unmittelbar anzugreifen. Er sah
das Elend der Welt, das die Sünde hervorgebracht hatte; dennoch gab
er ihnen keine lebhafte Schilderung ihrer Not. Er belehrte sie eines
Besseren, als sie je gekannt hatten. Ohne ihre Ansichten über das
Reich Gottes zunichte zu machen, erklärte er ihnen die Bedingungen,
unter denen allein sie hineingelangen könnten. Er ließ sie über die
Natur dieses Reiches ihre eigenen Schlüsse ziehen. Die Wahrhei-
ten, die er hier lehrte, sind für uns heute nicht weniger wichtig, als
sie es für die ihm nachfolgende Menge waren. Wir müssen ebenso
[289]
notwendig wie sie die Grundlagen des Reiches Gottes kennenlernen.