Seite 327 - Das Leben Jesu (1973)

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„Schweig und verstumme!“
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So nahmen ihn diese, nachdem er die Menge verabschiedet hatte,
so wie er war, ins Boot und stießen eiligst vom Ufer ab. Doch sie
blieben nicht allein. Andere Boote, die am Ufer lagen und schnell
mit Menschen besetzt waren, folgten ihnen. Es waren noch viele,
die ihn sehen und hören wollten.
Endlich war der Heiland von dem Gedränge der Menge befreit.
Überwältigt von Müdigkeit und Hunger, legte er sich hinten im
Schiff nieder und schlief bald ein. Es war ein ruhiger und angeneh-
mer Abend, und tiefe Stille lagerte über dem See. Plötzlich jedoch
überzog Finsternis den Himmel; der Wind fuhr ungestüm aus den
Bergklüften hernieder und fegte am östlichen Seeufer entlang, und
ein furchtbares Wetter brach herein.
Die Sonne war untergegangen, und die Finsternis der Nacht
lagerte über dem stürmischen See. Die von dem wütenden Wind
zu Schaum gepeitschten Wellen stürzten mit aller Heftigkeit über
dem Boot der Jünger zusammen und drohten es zu verschlingen.
Die abgehärteten Fischer hatten ihr Leben auf dem See zugebracht
und ihr Schifflein durch manchen Sturm sicher ans Ufer gebracht.
Jetzt aber versagten ihre Kraft und ihre Geschicklichkeit; sie waren
hilflos in der Gewalt des Sturmes, und ihre Hoffnung wich, als sie
sahen, daß das Boot voll Wasser schlug.
Ganz erfüllt von dem Bestreben, sich zu retten, hatten sie die
Anwesenheit Jesu vergessen. Als sie aber bemerkten, daß ihre Ret-
tungsarbeiten vergebens waren und sie den sicheren Tod vor Augen
fühlten, erinnerten sie sich, auf wessen Wunsch sie über den See
fuhren. Der Heiland war jetzt ihre einzige Hoffnung. In ihrer Hilf-
losigkeit und Verzweiflung schrien sie: „Meister! Meister!“
Lukas
8,24
. Aber die dichte Finsternis verbarg ihn vor ihren Augen; ihre
Stimmen wurden von dem Heulen des Sturmes übertönt — es kam
keine Antwort. Zweifel und Furcht überfielen sie. Hatte Jesus sie
verlassen? War er, der Krankheiten und Dämonen, ja sogar den Tod
besiegt hatte, jetzt machtlos, seinen Jüngern zu helfen? Achtete er
nicht ihrer Not?
Sie rufen noch einmal. Wieder keine Antwort. Nur das Heulen
des Sturmes ist zu vernehmen. Schon beginnt das Schiff zu sinken.
Noch einen Augenblick — und die gierigen Wellen werden sie
verschlungen haben.
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