Seite 36 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Mit Erstaunen nahmen jetzt die Boten des Himmels die Gleich-
gültigkeit des Volkes wahr, das Gott berufen hatte, der Welt das Licht
der heiligen Wahrheit mitzuteilen. Das jüdische Volk war bewahrt
worden, um zu bezeugen, daß Christus dem Samen Abrahams und
dem Hause Davids entstammte; dennoch wußte es nicht, daß die
Ankunft des Heilandes jetzt unmittelbar bevorstand. Selbst im Tem-
pel, wo die Morgen- und Abendopfer täglich auf das Lamm Gottes
hinwiesen, traf man keine Vorbereitungen, ihn zu empfangen; denn
auch die Priester und Lehrer des Volkes wußten nichts davon, daß
nunmehr das größte und wichtigste Ereignis aller Zeiten eintreten
sollte. Gedankenlos leierten sie ihre Gebete herunter und genügten
den förmlichen Vorschriften des Gottesdienstes, um den Menschen
zu gefallen; in ihrem Streben nach Reichtum und weltlicher Ehre
waren sie jedoch nicht auf die Offenbarung des Messias vorberei-
tet. Diese Gleichgültigkeit durchdrang das ganze jüdische Land.
Eigennutz und Weltsucht machten die Herzen unempfänglich für die
Freude, die den Himmel bewegte. Wenige nur sehnten sich danach,
den Unsichtbaren zu schauen, und nur diesen wenigen offenbarte
sich der Himmel.
Engel begleiteten Joseph und Maria auf ihrer Reise von ihrem
Heim in Nazareth nach der Stadt Davids. Das Gebot des kaiserlichen
Rom, daß sich alle Völker in seinem ausgedehnten Gebiet schätzen
ließen, erstreckte sich auch auf die Bewohner der Berge Galiläas.
Wie einst Cyrus zur Weltherrschaft berufen wurde, damit er die
Gefangenen des Herrn freiließe, so diente jetzt Kaiser Augustus als
Werkzeug, um die Absicht Gottes auszuführen, indem er den Anlaß
gab, der die Mutter Jesu nach Bethlehem führte. Sie stammte aus
dem Geschlecht Davids, und der Sohn Davids mußte in Davids Stadt
geboren werden. Aus Bethlehem, so hatte der Prophet gesagt, „soll
mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang
und von Ewigkeit her gewesen ist“.
Micha 5,1
. Doch in der Stadt
ihrer königlichen Vorfahren kannte und beachtete man Joseph und
Maria nicht. Müde und ohne ein Obdach zu haben, zogen sie die
lange, enge Straße entlang von einem Ende bis zum andern und
suchten vergebens eine Unterkunft für die Nacht. Es gab für sie
keinen Platz mehr in den überfüllten Herbergen der Stadt. Endlich
gewährte ihnen ein dürftiger Stall Obdach für die Nacht, und hier
wurde der Erlöser der Welt geboren.
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