Seite 395 - Das Leben Jesu (1973)

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Die Schranken werden niedergerissen
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Göttern Hilfe gesucht, aber vergebens. Manchmal dachte sie: Was
kann jener jüdische Lehrer schon für mich tun? Doch die Nachricht
ging um, er heile alle Krankheiten, ganz gleich, ob jene, die zu ihm
kamen, reich oder arm waren. Das kanaanäische Weib entschloß
sich, ihre einzige Hoffnung nicht fahren zu lassen.
Christus kannte die Lage dieser Frau. Er wußte auch von ihrem
Verlangen, ihn zu sehen, und stellte sich ihr in den Weg. Er tröstete
die Frau und gab seinen Jüngern gleichzeitig einen lebendigen An-
schauungsunterricht, den er ihnen nicht vorenthalten konnte; denn
dazu war er mit seinen Jüngern in diese Gegend gezogen. Jesus woll-
te, daß sie die große Unwissenheit sehen und erkennen sollten, die in
den Städten und Dörfern rings um Israel herrschte. Dieses Volk, dem
jede Gelegenheit gegeben war, die Wahrheit zu verstehen, hatte kei-
ne Ahnung von den Nöten derer, die um sie herum lebten. Es machte
auch keinerlei Anstrengung, diesen armen Seelen zu helfen und sie
aus der Finsternis herauszuziehen. Die Scheidewand, die jüdischer
Stolz aufgerichtet, hielt sogar der Jünger Mitleid mit der heidnischen
Welt zurück. Diese Schranke wollte Christus niederreißen.
Jesus erfüllte nicht sofort die Bitte des Weibes; er empfing viel-
mehr die Heidin in der gleichen Weise, wie es auch die Juden getan
hätten. Er wollte dadurch seinen Jüngern die kalte und herzlose Art
der Juden in einem solchen Falle vor Augen führen, um dann durch
seine erbarmende Liebe zu zeigen, wie sie handeln sollten.
Die Frau ließ sich durch den scheinbar unfreundlichen Emp-
fang nicht entmutigen. Und als Jesus weiterging, als hörte er das
kanaanäische Weib überhaupt nicht, folgte sie ihm und wiederholte
fortwährend ihre Bitte. Die Jünger waren über diese Zudringlichkeit
empört und baten ihren Herrn, die Frau wegschicken zu dürfen; sie
sahen ja, daß sich Jesus nicht mit der Frau beschäftigen wollte, und
nahmen an, daß er das Vorurteil der Juden gegen die Kanaaniter
teilte. Doch Christus, der auch dieser Frau ein barmherziger Heiland
war, sagte ihnen: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen
des Hauses Israel.“
Matthäus 15,24
. Obgleich diese Worte mit der
Ansicht der Juden übereinzustimmen schienen, lag in ihnen in Wirk-
lichkeit ein Tadel für die Jünger, den sie später auch verstanden, als
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sie sich daran erinnerten, was der Herr ihnen oft gesagt hatte: daß er
in die Welt gekommen sei, alle selig zu machen, die an ihn glauben.