Seite 50 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Als sie endlich das Land Israel erreichten und, Jerusalem vor
ihren Blicken, den Ölberg hinabstiegen, da verweilte der Stern, der
auf dem beschwerlichen Weg vor ihnen hergezogen war, über dem
Tempel, um nach einiger Zeit ihren Blicken zu entschwinden. Ei-
lenden Schrittes gingen sie nun vorwärts in der zuversichtlichen
Erwartung, daß die Kunde von der Geburt des Messias überall Be-
geisterung ausgelöst hatte. Aber alle ihre Nachforschungen blieben
ohne Erfolg. Unmittelbar nachdem sie die Stadt betreten hatten,
begaben sie sich zum Tempel. Doch zu ihrem Erstaunen fanden
sie niemanden, der etwas von dem neugeborenen König zu wissen
schien. Ihre Fragen riefen keine Freudenausbrüche hervor, eher das
Gefühl einer unangenehmen Überraschung und Furcht, bisweilen
sogar ein Gefühl der Geringschätzung.
Die Priester vergruben sich in die Überlieferung. Ihre religiöse
Auffassung und ihre Art der Frömmigkeit ging ihnen über alles,
während sie die Griechen und Römer als überaus sündige Heiden
bezeichneten. Auch die Weisen galten, obschon sie keine Götzendie-
ner waren und in Gottes Augen weit höher standen als diese seine
angeblichen Anbeter, bei den Juden als Heiden. Selbst bei den beru-
fenen Hütern der heiligen Schriften fand ihr eifriges Fragen keine
Gegenliebe.
Die Ankunft der Weisen wurde in Jerusalem schnell bekannt.
Ihre ungewöhnliche Botschaft brachte viel Aufregung unter das
Volk, die bis in den Palast des Königs Herodes drang. Der listige
Edomiter erschrak schon bei der bloßen Erwähnung eines möglichen
Nebenbuhlers. Ungezählte Mordtaten hatten seinen Weg zum Thron
besudelt. Dazu war er fremdstämmig und beim Volk, das er regierte,
verhaßt. Seine einzige Sicherheit war die Gunst Roms. Dieser neue
Fürst aber hatte sich auf mehr zu berufen; er war geboren, das Reich
einzunehmen.
Herodes hatte die Priester in Verdacht, daß sie mit den Fremdlin-
gen gemeinsame Sache machten, um einen Volksaufstand heraufzu-
beschwören und ihn zu entthronen. Zwar verbarg er sein Mißtrauen,
doch er beschloß, sie bei der Ausführung ihrer Pläne zu überlisten.
Er ließ die Hohenpriester und Schriftgelehrten zu sich rufen und
erkundigte sich bei ihnen, was ihre heiligen Bücher über den Ort
lehrten, wo der Messias geboren werden sollte.
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