Seite 551 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Fest im Hause Simons
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Der Heiland saß an der Festtafel zwischen dem Gastgeber, den er
von einer ekelerregenden Krankheit geheilt, und Lazarus, den er
vom Tode errettet hatte. Martha diente ihnen; doch Maria lauschte
mit allem Ernst jedem Wort, das aus dem Munde des Heilandes
kam. In seiner Barmherzigkeit hatte Jesus ihr die Sünden vergeben,
ihren geliebten Bruder hatte er aus dem Grabe gerufen; und ihr Herz
war voller Dankbarkeit. Sie hatte Jesus von seinem herannahenden
Tode sprechen hören, und in ihrer innigen Liebe und ihrer Besorgnis
sehnte sie sich danach, ihm ihre Verehrung zu zeigen. Unter großem
persönlichem Opfer hatte sie ein alabasternes Gefäß mit „Salbe von
unverfälschter, köstlicher Narde“ (
Johannes 12,3
) gekauft, um damit
ihren Herrn zu salben. Doch nun hörte sie, daß Jesus zum König
gekrönt werden sollte. Ihr Kummer verwandelte sich in Freude, und
sie war eifrig bestrebt, als erste den Herrn zu ehren. Sie zerbrach
das Gefäß und schüttete den Inhalt auf das Haupt und auf die Füße
des Herrn, sie kniete vor ihn hin, weinte und netzte mit ihren Tränen
seine Füße, die sie mit ihrem lang herabwallenden Haar trocknete.
Maria wollte jedes Aufheben vermeiden, und ihr Tun sollte un-
bemerkt bleiben; doch der Wohlgeruch der Salbe erfüllte den Raum
und ließ ihre Tat allen Anwesenden bekannt werden. Judas betrachte-
te dieses Geschehen sehr mißvergnügt. Statt erst zu hören, was Jesus
dazu sagen würde, begann er jenen, die bei ihm saßen, seine Klagen
zuzuraunen, indem er Jesus schmähte, daß dieser solche Vergeudung
duldete. In listiger Weise beeinflußte er sie so, daß wahrscheinlich
Unzufriedenheit die Folge sein würde.
Judas war der Schatzmeister der Zwölf. Er hatte ihrer kleinen
Kasse heimlich Beträge für sich selbst entnommen und ihre Hilfsmit-
tel dadurch zu einer kärglichen Summe zusammenschmelzen lassen.
Nun war er bestrebt, alles einzuheimsen, was er erlangen konnte;
denn oft wurden von dem Inhalt der Kasse die Armen unterstützt.
War etwas gekauft worden, das ihm nicht wichtig genug dünkte,
pflegte er zu sagen: Warum diese Verschwendung? Warum wurde
das Geld nicht in den Beutel getan, damit ich für die Bedürftigen sor-
gen kann? Marias Handlungsweise stand in einem so auffallenden
Gegensatz zu seiner Selbstsucht, daß er tief beschämt wurde. Seiner
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Gewohnheit gemäß suchte er nach einem angemessenen Motiv, um
seinen Einwand gegen Marias Gabe zu begründen. Er wandte sich
an die Jünger und fragte: „Warum ist diese Salbe nicht verkauft um