Seite 573 - Das Leben Jesu (1973)

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Ein verurteiltes Volk
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sich die Blätter entfaltet haben. Deshalb versprach dieser im vollen
Blätterschmuck stehende Baum gut entwickelte Früchte. Aber der
Schein trog. Beim Absuchen seiner Zweige vom niedrigsten bis zum
höchsten fand Jesus „nichts als nur Blätter“, eine Fülle prunkenden
Laubwerks, nichts weiter.
Da verwünschte er den Baum und sprach: „Nun esse von dir
niemand mehr eine Frucht ewiglich!“
Markus 11,14
. Am nächsten
Morgen, als Jesus mit seinen Jüngern den gleichen Weg ging, erreg-
ten die verdorrten Zweige und die verwelkten Blätter ihre Aufmerk-
samkeit. Petrus sagte verwundert: „Rabbi, siehe, der Feigenbaum,
den du verflucht hast, ist verdorrt.“
Markus 11,21
.
Christi Fluch über diesen Feigenbaum hatte die Jünger über-
rascht. Sie konnten diese Tat so gar nicht mit seinem Wandel und
seinem Wirken in Einklang bringen. Oft hatte er ihnen gesagt, daß
er nicht gekommen sei, die Welt zu verdammen, sondern zu erlösen.
Sie erinnerten sich seiner Worte: „Des Menschen Sohn ist nicht
gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhal-
ten.“
Lukas 9,56
. Seine wunderbaren Taten hatten bisher stets dazu
gedient, etwas wiederherzustellen, niemals aber, um etwas zu ver-
nichten. Die Jünger hatten ihren Herrn immer nur als Helfer und als
Heiland kennengelernt. Diese Tat stand einzig da. Sie fragten sich:
Warum hat der Herr diesen Baum vernichtet?
Gott ist barmherzig! „So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr:
ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern daß der
Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe.“
Hesekiel 33,11
.
Ihm ist das Vernichten und Verurteilen ein „fremdartiges Geschäft“.
Jesaja 28,21 (Schlachter)
. Er lüftet aber in Barmherzigkeit und Liebe
den Schleier der Zukunft und zeigt den Menschen die Folgen eines
sündigen Wandels.
Das Verfluchen des Feigenbaumes war ein in die Tat übersetztes
Gleichnis. Jener unfruchtbare Baum, der mit seinem Blätterschmuck
vor dem Herrn prunkte, war ein Sinnbild des jüdischen Volkes. Der
Heiland wünschte seinen Jüngern die Ursache und die Gewißheit von
Israels Schicksal zu verdeutlichen. Er rüstete darum den Baum mit
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sittlichen Eigenschaften aus und erhob ihn zum Ausleger göttlicher
Wahrheit. Die Juden nahmen unter allen Völkern eine bevorzugte
Stellung ein, indem sie ihren Bund mit Gott bekannten. Sie waren
von Gott in auffallender Weise begünstigt worden und beanspruch-