Seite 572 - Das Leben Jesu (1973)

Basic HTML-Version

568
Das Leben Jesu
Aufrührer an, der im Begriff stünde, den Tempel einzunehmen und
als König in Jerusalem zu regieren.
Doch die beruhigende Stimme Jesu ließ für einen Augenblick die
lärmende Menge verstummen, als er abermals erklärte, daß er nicht
gekommen sei, ein weltliches Reich aufzurichten, sondern daß er
bald zu seinem himmlischen Vater aufstiege und daß seine Ankläger
ihn nicht mehr sehen würden, bis er in Herrlichkeit wiederkäme.
Dann erst, wenn es für ihre Errettung zu spät wäre, würden sie ihn
anerkennen. Mit Trauer in der Stimme, aber ungewöhnlich eindring-
lich sprach Jesus diese Worte. Die römischen Beamten schwiegen
überwältigt. Ihre Herzen waren, obgleich ihnen der göttliche Einfluß
unbekannt war, bewegt wie noch nie in ihrem Leben. In dem stil-
len, ernsten Antlitz Jesu lasen sie Liebe, Wohlwollen und gelassene
Würde. Sie waren angerührt von einer Sympathie, die sie sich nicht
erklären konnten. Statt Jesus festzunehmen, neigten sie eher dazu,
ihm zu huldigen. Sie wandten sich gegen die Priester und Obersten
und beschuldigten diese der Ruhestörung; die Obersten wieder, är-
gerlich und enttäuscht, wandten sich mit ihren Klagen an das Volk
und stritten außerdem aufgebracht untereinander.
Währenddessen ging Christus unbemerkt zum Tempel. Hier
herrschte wohltuende Stille; denn das Geschehen auf dem Ölberg
hatte das Volk hinausgetrieben. Der Heiland blieb nur kurze Zeit an
dieser heiligen Stätte, auf die er mit Trauer blickte. Dann verließ er
mit seinen Jüngern diesen Ort und kehrte nach Bethanien zurück.
Als das Volk ihn suchte, um ihn zu krönen, war er nirgends in der
Stadt zu finden.
Die ganze Nacht verbrachte Jesus im Gebet, und am frühen
Morgen ging er wieder zum Tempel. Auf dem Wege dahin kam
er an einem Feigenhain vorbei. Er war hungrig, und „er sah einen
Feigenbaum von ferne, der Blätter hatte; da trat er hinzu, ob er etwas
darauf fände. Und da er hinzukam, fand er nichts als nur Blätter
denn es war nicht die Zeit für Feigen.“
Markus 11,13
.
Die Zeit der reifen Feigen war noch nicht gekommen, außer in
bestimmten Gegenden; und auf den Höhen um Jerusalem konnte
man sagen: „Es war nicht die Zeit für Feigen.“ Doch in dem Garten,
zu dem Jesus kam, schien ein Baum allen anderen weit voraus zu
[574]
sein. Er war bereits mit Blättern bedeckt, und es liegt in der Natur
des Feigenbaumes, daß die wachsende Frucht erscheint, noch ehe