Seite 605 - Das Leben Jesu (1973)

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„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer ...“
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unbeachtet ließen und von denen entbunden zu sein sie behaupteten,
wenn es ihren Absichten nutzte.
Sie waren stets darauf aus, ihre Frömmigkeit zur Schau zu stel-
len. Nichts war ihnen zu heilig, um nicht diesem Ziele zu dienen.
Im Hinblick auf die Beachtung seiner Gebote hatte Gott zu Mose
gesagt: „Du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie
sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein.“
5.Mose
6,8
. In diesen Worten liegt eine tiefe Bedeutung. Der ganze Mensch
wird zum Guten hin verändert, wenn er über das Wort Gottes nach-
denkt und es befolgt. Seine Hände werden durch rechtschaffene und
barmherzige Taten die Grundzüge des göttlichen Gesetzes öffentlich
besiegeln. Sie werden weder durch Bestechung noch durch irgend
etwas anderes, das verderblich und betrügerisch ist, befleckt werden.
Statt dessen werden sie Werke der Liebe und des Mitgefühls voll-
bringen. Die Augen, die auf ein edles Ziel gerichtet sind, werden
klar und wahr blicken. Die Gesichtszüge, der Blick, werden den
makellosen Charakter eines Menschen widerspiegeln, der das Wort
Gottes liebt und ehrt. Aber an den Juden in den Tagen Christi konnte
man dies alles nicht feststellen. Die dem Mose erteilte Weisung wur-
de dahingehend ausgelegt, daß die Gebote der Schrift buchstäblich
am Leibe getragen werden sollten. Zu diesem Zweck schrieb man
sie auf Pergamentstreifen, die man in auffälliger Weise um Kopf
und Handgelenke band. Dadurch konnte das Gesetz Gottes jedoch
keinen nachhaltigeren Einfluß auf Geist und Herz ausüben; denn
diese Pergamente wurden lediglich als eine Art Abzeichen getragen,
eben um Aufsehen zu erregen. Sie sollten den Träger mit einem
Nimbus der Weihe umgeben und die Ehrfurcht der Leute herausfor-
dern. Solcher eitlen Vorspiegelung versetzte Jesus mit den folgenden
Worten einen schweren Schlag:
„Alle ihre Werke aber tun sie, damit sie von den Leuten gesehen
werden. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an
ihren Kleidern groß. Sie sitzen gerne obenan bei Tisch und in den
Synagogen und haben‘s gerne, daß sie gegrüßt werden auf dem
Markt und von den Menschen Rabbi genannt werden. Aber ihr sollt
euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister; ihr aber
seid alle Brüder. Und ihr sollt niemand euren Vater heißen auf Erden;
denn einer ist euer Vater, der im Himmel ist. Und ihr sollt euch nicht
lassen Lehrer nennen; denn einer ist euer Lehrer, Christus.“
Matthäus
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