Seite 604 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
religiösen Belangen stets blind vertraut. Doch jetzt sahen sie diese
Männer bei dem Versuch, Jesus herabzuwürdigen, ihn, einen Leh-
rer, dessen Tugend und dessen Erkenntnis aus jedem Angriff um
so glänzender hervorleuchteten. Sie blickten auf das Mienenspiel
der Priester und Ältesten und sahen dort Verdruß und Verwirrung.
Die meisten von ihnen wunderten sich, daß die Obersten nicht an
Jesus glauben wollten, da seine Lehren doch so klar und einfach
waren. Sie selbst wußten nicht, was sie tun sollten. Mit gespannter
Sorge beobachteten sie die Reaktion jener, deren Rat sie stets gefolgt
waren.
Mit seinen Gleichnissen verfolgte Jesus zweierlei: er wollte die
Obersten warnen und gleichzeitig das Volk belehren, das willig war,
sich belehren zu lassen. Dazu war es notwendig, noch deutlicher zu
sprechen. Ihre Ehrfurcht vor der Tradition und ihr blinder Glaube an
eine verderbte Priesterschaft hatte das Volk in sklavische Abhängig-
keit gebracht. Diese Ketten mußte Christus zerbrechen. Das wahre
Wesen der Priester, Obersten und Pharisäer mußte restlos enthüllt
werden.
„Auf des Mose Stuhl“, sagte Christus, „sitzen die Schriftgelehr-
ten und Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das tut und haltet;
aber nach ihren Werken sollt ihr nicht tun; sie sagen‘s wohl, und
tun‘s nicht.“
Matthäus 23,2.3
. Die Schriftgelehrten und Pharisäer
behaupteten, wie Mose mit göttlicher Vollmacht ausgerüstet zu sein.
Sie maßten sich an, seinen Platz als Ausleger des Gesetzes und
Richter des Volkes einzunehmen. Als solche forderten sie vom Volk
größte Ehrerbietung und völligen Gehorsam. Der Herr gebot den
Zuhörern, alles zu tun, was die Rabbiner in Übereinstimmung mit
dem Gesetz lehrten, niemals aber ihrem Beispiel zu folgen, da diese
selbst nicht nach ihrer Lehre handelten.
Sie verkündigten vieles, was den heiligen Schriften entgegen
war. Jesus sagte: „Sie binden schwere Bürden und legen sie den
Menschen auf den Hals; aber sie selbst wollen sie nicht mit einem
Finger anrühren.“
Matthäus 23,4
. Die Pharisäer hatten eine Fülle
von Vorschriften eingeführt, die sich lediglich auf Überlieferungen
gründeten und die die persönliche Freiheit auf eine unvernünftige
Art beschränkten. Bestimmte Teile des Gesetzes erklärten sie so,
daß dem Volk Pflichten auferlegt wurden, die sie selbst insgeheim
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