Seite 642 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Heiland. Die Zwölf klammerten sich an ihren Lieblingswunsch, daß
ihr Meister seine Macht durchsetzen und vom Thron Davids Besitz
nehmen möchte, und in seinem Herzen sehnte sich jeder danach,
in diesem Reich der Größte zu sein. Sie hatten sich untereinander
abschätzend betrachtet; aber statt ihren Bruder für würdiger zu ach-
ten, hatten sie sich selbst auf den ersten Platz gesetzt. Die Bitte des
Jakobus und des Johannes an Jesus, zur Rechten und Linken seines
Thrones sitzen zu dürfen, hatte den Unwillen der anderen hervorge-
rufen. Daß die beiden Brüder es gewagt hatten, nach dem höchsten
Platz an der Seite Jesu zu fragen, erregte die Zehn so sehr, daß sie
sich einander zu entfremden drohten. Sie fühlten sich falsch beurteilt,
sie fühlten ihre Treue und ihre Begabung nicht richtig gewürdigt;
besonders Judas stritt sehr heftig gegen Jakobus und Johannes.
Noch beim Eintritt in den Saal waren die Herzen der Jünger
mit Groll erfüllt. Judas drängte sich an Jesu linke Seite, Johannes
ging auf der andern. Wenn es einen höchsten Platz gab dann war
Judas entschlossen, ihn einzunehmen, und dieser Platz mußte sich
in nächster Nähe des Herrn befinden. Und Judas war ein — Verräter.
Eine andere Ursache der Uneinigkeit kam auf. Zu dem Fest war
es Brauch, daß ein Diener den Gästen die Füße wusch, und dafür
waren die entsprechenden Vorbereitungen getroffen worden. Krug,
Schüssel und Handtuch waren bereit. Die Fußwaschung konnte
beginnen. Da aber kein Diener anwesend war, gehörte es zur Aufgabe
der Jünger, diesen Dienst zu erfüllen. Doch keiner der Jünger konnte
sich entschließen, seinen verwundeten Stolz aufzugeben und sich als
Diener zu betätigen. Alle zeigten eine sture Gleichgültigkeit, ohne
sich dessen bewußt zu sein, daß hier etwas für sie zu tun war. Durch
ihr Stillschweigen weigerten sie sich, sich zu demütigen.
Wie konnte Jesus diese armen Seelen dahin bringen, daß Satan
keinen größeren Einfluß auf sie gewann? Wie konnte er ihnen ver-
ständlich machen, daß nicht allein das Bekenntnis der Jüngerschaft
sie zu seinen Nachfolgern machte oder ihnen einen Platz in seinem
Reich sicherte? Wie konnte er ihnen zeigen, daß wahre Größe in
echter Demut und im Dienst für andere besteht? Wie konnte er Liebe
in ihren Herzen entzünden? Wie konnte er die Liebe in ihre Herzen
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pflanzen und sie befähigen, das zu verstehen, was er ihnen sagen
wollte?