Seite 641 - Das Leben Jesu (1973)

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Aller Diener
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ihn unter euch; denn ich sage euch: Von nun an werde ich nicht
trinken von dem Gewächs des Weinstocks, bis das Reich Gottes
kommt.“
Lukas 22,15-18
.
Der Heiland wußte, daß die Zeit gekommen war, von dieser Welt
zu scheiden und zu seinem Vater zu gehen. Er hat die Seinigen in
dieser Welt geliebt, und er liebte sie bis ans Ende. Nun befand er
sich im Schatten des Kreuzes, und Schmerz peinigte sein Herz. Ihm
war bewußt, daß er in der Stunde des Verrats allein stehen würde.
Er wußte, daß er durch den demütigendsten Prozeß, dem Verbre-
cher je unterworfen wurden, zum Tode verurteilt werden würde.
Er kannte die Undankbarkeit und Grausamkeit derer, die zu retten
er gekommen war. Ihm war die Größe seines Opfers bewußt, und
ihm war ebenso bewußt, für wie viele Menschen es vergebens sein
werde. Das Wissen um all diese Dinge würde es verständlich ge-
macht haben, wenn ihn der Gedanke an seine Erniedrigung und sein
Leiden überwältigt hätte. Er aber blickte auf die Zwölf, die sich ihm
mit ganzem Herzen angeschlossen hatten und die, wenn die Zeit
seiner Leiden vorüber wäre, allein sein würden in dem Ringen, in
dieser Welt zu bestehen. Die Gedanken an sein Opfer verbanden sich
stets mit der Zukunft seiner Jünger; er dachte nicht an sich selbst,
vielmehr beherrschte ihn auch jetzt die Sorge um sie.
An diesem letzten Abend hatte Jesus seinen Jüngern viel zu
sagen. Wären sie bereit gewesen, das aufzunehmen, was er ihnen
mitteilen wollte, dann wären sie vor herzbrechender Pein, vor Ent-
täuschung und Unglauben bewahrt geblieben. Doch der Heiland
sah, daß sie nicht tragen konnten, was er ihnen zu sagen hatte; er
schaute sie bekümmert an, und die mahnenden und tröstenden Worte
erstarben auf seinen Lippen. Tiefes Schweigen erfüllte den Raum;
der Heiland schien auf etwas zu warten. Den Jüngern wurde es
unbehaglich. Das durch den Kummer ihres Meisters hervorgerufe-
ne Mitgefühl und die Anteilnahme an seinem Schicksal schienen
geschwunden zu sein. Seine bekümmerten Worte, die auf seinen Lei-
densweg hinwiesen, hatten nur wenig Eindruck auf sie gemacht; die
Blicke, die sie einander zuwarfen, sprachen vielmehr von Eifersucht
und Streit.
Es war „ein Zank unter ihnen, welcher unter ihnen sollte für
den Größten gehalten werden“.
Lukas 22,24
. Dieser Streit, den sie
auch in Jesu Gegenwart noch fortsetzten, betrübte und verletzte den
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