Seite 683 - Das Leben Jesu (1973)

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Gethsemane
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erkannte. Bisher war er ein Fürsprecher für andere gewesen, jetzt
sehnte er sich danach, selbst einen Fürsprecher zu haben.
Als der Heiland fühlte, daß sein Einssein mit dem himmlischen
Vater unterbrochen war, fürchtete er, in seiner menschlichen Na-
tur unfähig zu sein, den kommenden Kampf mit den Mächten der
Finsternis zu bestehen. Schon in der Wüste der Versuchung hatte
das Schicksal des Menschengeschlechts auf dem Spiel gestanden
— doch Jesus war Sieger geblieben. Jetzt war der Versucher zum
letzten schrecklichen Kampf gekommen, auf den er sich während
der dreijährigen Lehrtätigkeit des Herrn vorbereitet hatte. Alles hing
von dem Ausgang dieses Kampfes ab. Verlor Satan, dann war seine
Hoffnung auf die Oberherrschaft gebrochen; die Reiche der Welt
würden schließlich Christus gehören; er selbst würde überwältigt
und ausgestoßen werden. Ließe sich Christus aber überwinden, dann
würde die Erde Satans Reich werden und das Menschengeschlecht
für immer in seiner Gewalt bleiben. Die Folgen dieses Streites vor
Augen, war Christi Seele erfüllt von dem Entsetzen über die Tren-
nung von Gott. Satan sagte dem Herrn, daß er als Bürge für die
sündige Welt ewig von Gott getrennt wäre; er würde dann zu Satans
Reich gehören und niemals mehr mit Gott verbunden sein.
Was war durch dieses Opfer zu gewinnen? Wie hoffnungslos
erschienen die Schuld und die Undankbarkeit der Menschen! In
härtesten Zügen schilderte Satan dem Herrn die Lage: Alle jene, die
für sich in Anspruch nehmen, ihre Mitmenschen in zeitlichen und
geistlichen Dingen zu überragen, haben dich verworfen. Sie suchen
dich zu vernichten, dich, der du der Grund, der Mittelpunkt und das
Siegel aller Weissagungen bist, die ihnen als einem auserwählten
Volk offenbart wurden. Einer deiner eigenen Jünger, der deinen
Unterweisungen gelauscht hat, der einer der ersten deiner Mitarbeiter
gewesen ist, wird dich verraten; einer deiner eifrigsten Nachfolger
wird dich verleugnen, ja, alle werden dich verlassen!
Christi ganzes Sein wehrte sich bei diesen Gedanken. Daß jene,
die er retten wollte und die er so sehr liebte, sich an Satans Plänen
beteiligten, schnitt ihm ins Herz. Der Widerstreit war schrecklich.
Sein Maßstab war die Schuld seines Volkes, seiner Ankläger und
seines Verräters; die Schuld einer in Gottlosigkeit darniederliegen-
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den Welt. Die Sünden der Menschen lasteten schwer auf ihm, und
das Bewußtsein des Zornes Gottes überwältigte ihn.