Seite 682 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Gestalt schwankte, als würde er jeden Augenblick fallen. Nachdem
sie den Garten betreten hatten, schauten die Jünger besorgt nach
dem Platz, an den sich Jesus gewöhnlich zurückzog, und wünschten,
daß ihr Meister dort ruhen möge. Jeder Schritt, den er nun vorwärts
ging, wurde zur Anstrengung. Er stöhnte vernehmlich, als stünde
er unter einer schrecklichen Belastung. Zweimal mußten ihn seine
Gefährten stützen, sonst wäre er gefallen.
In der Nähe des Eingangs zum Garten ließ Jesus seine Jünger
bis auf drei zurück und forderte sie auf, für sich selbst und für ihn
zu beten. Mit Petrus, Jakobus und Johannes ging er an jenen Ort der
Abgeschiedenheit; diese drei waren seine vertrautesten Gefährten.
Sie hatten seine Herrlichkeit auf dem Verklärungsberg erlebt; sie
hatten Mose und Elia mit ihm sprechen sehen; sie hatten auch die
Stimme vom Himmel gehört — jetzt wollte sie Christus während
seines großen Kampfes in seiner Nähe wissen. Oft schon hatten sie
eine Nacht mit ihm in dieser Zurückgezogenheit verbracht, waren
aber stets nach einer Zeit des Wachens und Betens abseits gegangen,
um in einiger Entfernung von ihrem Meister ungestört zu schlafen,
bis er sie morgens zu neuem Tagewerk weckte. Doch jetzt sollten
sie nach des Meisters Wunsch die ganze Nacht mit ihm wachen und
beten, obwohl es ihm unerträglich war, daß sie zu Zeugen seines
Seelenkampfes, den er auf sich nehmen mußte, werden sollten.
„Bleibet hier“, sagte er ihnen, „und wachet mit mir!“
Matthäus
26,38
.
Er ging einige Schritte abseits, gerade so weit, daß sie ihn noch
sehen und hören konnten, und fiel auf die Erde nieder. Die Sün-
de trennte ihn von seinem Vater, das fühlte er. Der Abgrund war
so breit, so dunkel und so tief, daß sein Geist davor zurückschau-
derte. Er durfte seine göttliche Macht nicht benutzen, um diesem
Kampf zu entrinnen. Als Mensch mußte er die Folgen der Sünde der
Menschheit erleiden, als Mensch mußte er den Zorn Gottes über die
Übertretungen ertragen.
Die Stellung Jesu war jetzt eine andere als je zuvor. Sein Lei-
den läßt sich am besten mit den Worten des Propheten Sacharja
ausdrücken: „Schwert, mach dich auf über meinen Hirten, über den
Mann, der mir der nächste ist! spricht der Herr Zebaoth.“
Sacharja
13,7
. Als Vertreter und Bürge der sündigen Menschen litt Christus
unter der göttlichen Gerechtigkeit, deren ganzen Umfang er nun
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