Seite 694 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
gen dieser Frage war damals ihre Sitzung abgebrochen worden, so
daß ihre Pläne durchkreuzt wurden. Nikodemus und auch Joseph
von Arimathia sollten daher jetzt nicht eingeladen werden; doch
es könnten andere wagen, für Recht und Gerechtigkeit einzutreten.
Das Verhör mußte deshalb so geschickt geleitet werden, daß alle
Mitglieder des Hohen Rates Jesus einstimmig verurteilten. Zwei An-
klagen waren es, die die Priester erheben wollten. Wenn man Jesus
als Gotteslästerer bezichtigen könnte, dann würde ihn das jüdische
Volk verurteilen. Gelänge es ferner, ihn des Aufruhrs für schuldig
zu erklären, dann wäre auch seine Verurteilung durch die Römer
gewiß. Die zweite Anklage versuchte Hannas zuerst zu begründen.
Er fragte Jesus nach seinen Jüngern und nach seinen Lehren, wobei
er hoffte, der Gefangene, würde etwas sagen, daß Anlaß böte, ge-
gen ihn vorzugehen. Könnte Hannas auch nur einige Bemerkungen
aus Jesus herauslocken als Beweis dafür, daß er einen Geheimbund
gründen wollte mit der Absicht, ein neues Königreich aufzurichten,
dann würden die Priester einen Grund haben, ihn als Friedensstörer
und Unruhestifter den Römern auszuliefern.
Christus durchschaute die Absicht der Priester. Als ob er ihre
verborgensten Gedanken lesen würde, verneinte er, daß es einen
geheimen Bund zwischen ihm und seinen Jüngern gäbe und daß er
sie heimlich und bei Dunkelheit versammelte, um seine Absichten
zu verbergen. Sein Vorhaben und seine Lehren waren frei von Ge-
heimnissen. „Ich habe frei öffentlich geredet vor der Welt“, sagte
er. „Ich habe allezeit gelehrt in der Synagoge und in dem Tempel,
wo alle Juden zusammenkommen, und habe nichts im Verborgenen
geredet.“
Johannes 18,20
.
Der Heiland verglich die Art seines Wirkens mit den Methoden
seiner Ankläger. Monatelang hatten sie Jagd auf ihn gemacht, um
ihn in eine Falle zu locken und vor ein geheimes Gericht zu bringen,
wo sie, notfalls durch Meineid, erreichen konnten, was bei einem
ehrlichen Verfahren unmöglich war. Nun führten sie ihre Absicht
aus. Die mitternächtliche Festnahme durch den Pöbel, seine Verspot-
tung und Mißhandlung, bevor er verurteilt oder zumindest angeklagt
war, entsprach ihrer Art zu handeln und nicht seiner. Ihr Vorgehen
stand im Widerspruch zum Gesetz. Ihre eigenen Gesetze verlang-
ten, daß jeder als unschuldig zu gelten habe, solang seine Schuld
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