Seite 712 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
reichen konnte. Nach seinem eigenen Urteil hielt er sich für eine
Zierde dieses Kreises; dementsprechend war seine Haltung.
Judas war blind gegenüber seinen Charakterschwächen, und Je-
sus wies ihm einen Platz an, wo es ihm möglich gewesen wäre,
seine Mängel zu erkennen und zu bekämpfen. Als Schatzmeister
der Jünger mußte er für die leiblichen Bedürfnisse dieser kleinen
Gemeinschaft sorgen und auch die Not der Armen lindern. Als Jesus
in dem Raum, wo sie das Passahmahl einnahmen, zu ihm sagte:
„Was du tust, das tue bald!“ (
Johannes 13,27
), glaubten die Jünger,
Jesus hätte ihm geboten, etwas für das Fest einzukaufen oder aber
den Armen eine Gabe zukommen zu lassen. Durch den Dienst für
andere hätte Judas einen selbstlosen Geist entwickeln können; doch
während er täglich den Lehren Jesu zuhörte und Zeuge dessen unei-
gennützigen Wandels war, nährte er seine habgierigen Neigungen.
Die kleinen Beträge, die durch seine Hände gingen, waren für ihn
eine ständige Versuchung. Oft, wenn er dem Herrn einen kleinen
Dienst erwiesen oder seine Zeit auf religiöse Dinge verwandt hatte,
nahm er sich selbst seinen Lohn aus der bescheidenen Kasse. Ihm
dienten solche Gelegenheiten als Vorwand, seine Handlungsweise
zu entschuldigen; in Gottes Augen aber war er ein Dieb.
Christi oft wiederholte Feststellung, daß sein Reich nicht von
dieser Welt sei, ärgerte Judas. So hatte er bereits einen Plan entwor-
fen, nach dem zu handeln er von Jesus erwartete. Ein Teil dieses
Planes bestand darin, Johannes den Täufer aus dem Gefängnis zu be-
freien; aber siehe, Johannes blieb eingekerkert und wurde enthauptet.
Und Jesus, statt sein königliches Recht zu wahren und den Tod des
Täufers zu rächen, zog sich mit den Jüngern an einen ländlichen
Ort zurück. Judas wünschte ein schneidigeres Vorgehen. Er glaubte,
daß sie ihre Aufgabe bedeutend erfolgreicher lösen könnten, wenn
Jesus sie nicht immer davon abhielte, ihre Pläne durchzuführen.
Er bemerkte die zunehmende Feindseligkeit der jüdischen Oberen
und mußte erleben, daß ihr Verlangen, von Christus ein göttliches
Zeichen zu sehen, unbeachtet blieb. Sein Herz öffnete sich dem Un-
glauben, und Satan säte Gedanken des Zweifels und der Auflehnung.
Warum hielt sich Jesus so lange mit den Dingen auf, die entmutigend
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waren? Warum weissagte er von Prüfungen und Verfolgungen, die
ihn und seine Jünger treffen sollten? Ihn, Judas, hatte doch haupt-
sächlich die Aussicht auf eine einflußreiche Stellung in dem neuen