Seite 711 - Das Leben Jesu (1973)

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Judas
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ihnen sprach. Judas erlebte, wie Kranke, Lahme und Blinde aus
den Städten zu Jesus strömten. Er sah, wie Sterbende ihm zu Füßen
gelegt wurden. Er war Zeuge der machtvollen Bekundungen des
Heilandes, wenn er die Kranken heilte, die Teufel austrieb und die
Toten auferweckte. Er spürte an sich selbst die Macht Jesu und war
sich bewußt, daß Jesu Lehren alles überragten, was er bisher gehört
hatte. Er liebte den großen Lehrer und sehnte sich danach, bei ihm
zu sein. Er hatte das Verlangen, daß sein Wesen und sein Leben
umgewandelt würden, und er hoffte dies durch seine Verbindung
mit Jesus zu erleben. Der Heiland wies Judas nicht zurück. Er gab
ihm einen Platz unter den Zwölfen, vertraute ihm das Amt eines
Evangelisten an und stattete ihn aus mit der Kraft, Kranke zu heilen
und Teufel auszutreiben. Dennoch konnte sich Judas nicht überwin-
den, völlig in Christus aufzugehen. Weder gab er seinen weltlichen
Ehrgeiz auf noch seine Liebe zum Geld. Obgleich er das Amt ei-
nes Dieners Christi annahm, überließ er sich nicht dem göttlichen
Einfluß. Er war der Ansicht, sich ein eigenes Urteil und eine eigene
Meinung bewahren zu können, und hegte damit die Neigung, andere
zu kritisieren und anzuklagen.
Unter den Jüngern war Judas hoch geachtet, und er übte großen
Einfluß auf sie aus. Er hatte eine hohe Meinung von seinen Fähig-
keiten und glaubte sich seinen Brüdern an Urteilskraft und Talent
stark überlegen. Er meinte, sie würden die sich ihnen bietenden Ge-
legenheiten nicht erkennen und keinen Vorteil daraus ziehen. Die
christliche Gemeinde könne mit solch kurzsichtigen Männern an
der Spitze nicht gedeihen. Petrus war ungestüm; er würde oft ohne
Überlegung handeln. Johannes, der Christi Lehre in sich aufnahm
und bewahrte, war in Judas‘ Augen ein schlechter Haushalter. Mat-
thäus, dessen Erziehung ihn gelehrt hatte, in allen Dingen peinlich
genau zu sein, legte größten Wert auf Rechtschaffenheit. Er dachte
stets über alle Worte Christi gründlich nach und vertiefte sich derart
darein, daß ihm nach Meinung des Judas keine Aufträge anvertraut
werden konnten, die Scharfsinn und Weitblick verlangten. In dieser
Weise nahm sich Judas alle Jünger vor, und er schmeichelte sich, daß
der Jüngerkreis oft in Verwirrung und Verlegenheit geraten wäre,
wenn es ihn mit seiner Fähigkeit als guten Haushalter nicht gege-
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ben hätte. Er war der Überzeugung, daß niemand ihm das Wasser