Seite 721 - Das Leben Jesu (1973)

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Bei Pilatus
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sie wußten, eine solche Strafe nie verdient hatten. Das Leben eines
Gefangenen zählte bei ihm nicht viel; ob jemand schuldig oder un-
schuldig war, spielte keine besondere Rolle. So hofften die Priester,
er werde auch jetzt das Todesurteil über Jesus verhängen, ohne ihm
noch Gehör zu schenken. Das erbaten sie sich als eine besondere
Gunst anläßlich ihres großen nationalen Festes.
Aber Pilatus sah etwas in dem Gefangenen, das ihn von allzu
schnellem Handeln zurückhielt. Er wagte nicht, ihn zu verurteilen.
Auch erkannte er die Absicht der Priester. Er erinnerte sich, daß
dieser Jesus erst kürzlich einen Mann namens Lazarus, der schon
vier Tage tot gewesen war, wieder auferweckt hatte; darum beschloß
er, erst in Erfahrung zu bringen, worin die Anklagen gegen ihn
beständen und ob sie bewiesen werden könnten, ehe er das Urteil
unterschriebe.
Wenn euer Urteil berechtigt ist, sagte er, warum bringt ihr diesen
Mann dann noch zu mir? „So nehmet ihr ihn hin und richtet ihn
nach eurem Gesetz.“
Johannes 18,31
. Auf diese Weise in die Enge
getrieben, konnten die Priester nur antworten, daß sie Jesus bereits
verurteilt hätten, daß der Spruch aber noch seiner Bestätigung be-
dürfte, damit er rechtskräftig würde. Wie lautet euer Richterspruch?
fragte Pilatus. Wir haben ihn zum Tode verurteilt, antworteten sie
darauf, doch es ist uns nach dem Gesetz nicht erlaubt, die Todesstrafe
zu vollstrecken. Sie baten ihn, auf ihr Wort hin Christi Schuld anzu-
erkennen und ihr Urteil zu bestätigen; sie würden die Verantwortung
dafür auf sich nehmen.
Pilatus war weder ein gerechter noch ein gewissenhafter Richter.
Obwohl in seiner inneren Haltung schwankend, weigerte er sich
dennoch, diese Bitte zu gewähren. Er wollte Jesus nicht verurteilen,
bis eine Anklage gegen ihn erhoben worden wäre.
Die Priester gerieten in große Verlegenheit. Sie mußten ihre
Heuchelei unter einem undurchdringlichen Deckmantel verbergen
und durften keinesfalls den Anschein erwecken, als sei Jesus aus
religiösen Gründen festgenommen worden. Eine solche Beweis-
führung würde der Römer nicht anerkennen. Sie mußten vielmehr
glaubhaft machen, daß sich Jesus gegen die Staatsgesetze vergangen
habe; dann erst konnte er als politischer Verbrecher bestraft werden.
Aufruhr und Widerstand gegen die römische Staatsgewalt waren bei
den Juden an der Tagesordnung. Die Römer griffen in solchen Fällen
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