Seite 720 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Kein Anzeichen einer Schuld, keinen Ausdruck von Furcht oder
Dreistigkeit erkannte er auf dessen Antlitz. Er sah einen Mann von
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ruhiger Wesensart und Würde vor sich, dessen Gesichtszüge nicht
die Kennzeichen eines Verbrechers trugen, sondern die eines mit
dem Himmel verbundenen Menschen.
Christi Erscheinung machte einen guten Eindruck auf Pilatus,
dessen bessere Natur sich angesprochen fühlte. Er hatte von Jesus
und seinem Wirken gehört; auch seine Frau hatte ihm manches über
die wunderbaren Taten des galiläischen Propheten mitgeteilt, der
die Kranken heilte und Tote auferweckte. Das alles kam ihm jetzt
wieder — gleich einem vergessenen Traum — zum Bewußtsein. Er
entsann sich gewisser Gerüchte, die ihm von verschiedenen Seiten
zugegangen waren, und er beschloß, die Juden zu fragen, welche
Anklage sie gegen diesen Mann vorzubringen hätten.
Wer ist dieser Mann, und weshalb habt ihr ihn hergebracht? frag-
te er sie. Wessen beschuldigt ihr ihn? Die Juden wurden verwirrt. Da
sie sehr wohl wußten, daß sie ihre gegen Jesus gerichteten Anklagen
nicht beweisen konnten, wünschten sie keine öffentliche Untersu-
chung. Sie antworteten deshalb, er sei ein Betrüger und werde Jesus
von Nazareth genannt.
Pilatus fragte noch einmal: „Was bringet ihr für Klage wider
diesen Menschen?“ Die Priester beantworteten seine Frage nicht,
aber mit dem, was sie sagten, verrieten sie ihre große Erregung:
„Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwor-
tet.“
Johannes 18,29.30
. Wenn die Mitglieder des Hohen Rates, die
angesehensten Männer des Volkes, dir einen Mann bringen, den sie
des Todes für würdig halten, ist es dann noch nötig, nach einer An-
klage gegen ihn zu fragen? Auf diese Weise hofften sie Pilatus von
ihrer eigenen Wichtigkeit überzeugen zu können und ihn dadurch zu
veranlassen, ihren Wunsch ohne weitere Förmlichkeit zu erfüllen.
Sie waren um eine schnelle Bestätigung ihres Urteilsspruches be-
müht; denn sie wußten, daß das Volk, das Christi Wundertaten erlebt
hatte, eine Geschichte erzählen konnte, die sich wesentlich von den
Erdichtungen unterscheiden würde, die sie selbst jetzt vorbrachten.
Die Priester waren der Annahme, bei dem schwachen, unschlüs-
sigen Pilatus ihre Absichten ohne Schwierigkeit durchführen zu
können; hatte er doch bis dahin Todesurteile unbedenklich unter-
zeichnet und dadurch Menschen dem Tode überantwortet, die, wie
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