Seite 74 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
übermittelt worden waren; er aber fragte nach deren Grund in der
Heiligen Schrift. Er war stets gewillt, auf jedes Wort zu hören, das
aus dem Munde Gottes kam, er wollte aber keinen menschlichen
Überlieferungen gehorchen. Jesus schien die gesamte Heilige Schrift
zu kennen, und er bot sie ihnen in ihrer wahren Bedeutung dar. Die
Schriftgelehrten waren beschämt, daß ein Kind sie belehrte. Sie
erklärten, daß es ihres Amtes sei, die Schrift auszulegen, und daß
er verpflichtet sei, ihre Auslegung anzunehmen. Sie waren unwillig
darüber, daß er ihren Worten Widerstand entgegensetzte.
Sie wußten, daß ihre Traditionen in der Schrift nicht begründet
waren, und sie erkannten wohl, daß Jesus ihnen mit seinem geistli-
chen Verständnis weit voraus war. Dennoch waren sie verärgert, weil
er ihren Satzungen nicht gehorchte. Als sie ihn nicht zu überzeugen
vermochten, suchten sie Joseph und Maria auf und teilten diesen mit,
daß Jesus sich weigere, ihren Vorstellungen zu folgen. Also wurde
er getadelt und gerügt.
Schon sehr bald hatte Jesus seine Charakterbildung in die eigene
Hand genommen. Selbst die Achtung vor seinen Eltern und die
Liebe zu ihnen brachte ihn nicht vom Gehorsam gegenüber dem
Worte Gottes ab. Handelte er anders, als es sonst in der Familie
üblich war, so begründete er dies mit einem „Es steht geschrieben“.
Der Einfluß der Rabbiner erschwerte jedoch sein Leben. Bereits in
jungen Jahren mußte er die harte Lektion lernen, zu schweigen und
geduldig auszuharren.
Seine Brüder, wie die Söhne Josephs genannt wurden, stellten
sich auf die Seite der Rabbiner. Sie bestanden darauf, daß die Über-
lieferungen ebenso befolgt werden müßten wie die Gebote Gottes.
Ja, sie schätzten diese Vorschriften sogar höher als Gottes Wort.
Jesu klare Unterscheidung zwischen falsch und wahr empfanden
sie als großes Ärgernis; seinen strikten Gehorsam gegenüber dem
göttlichen Gesetz verurteilten sie als Eigensinn. Sie waren aller-
dings überrascht, welche Kenntnis und welches Wissen er an den
Tag legte, wenn er den Rabbinern antwortete, wußten sie doch, daß
er von diesen weisen Männern nicht unterwiesen worden war. Es
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war vielmehr offensichtlich, daß er selbst sie belehrte. Daß Jesu
Ausbildung besser war als ihre eigene, erkannten sie wohl, doch
nahmen sie nicht wahr, daß er Zugang zum Lebensbaum besaß, zu
einer Erkenntnisquelle, die ihnen fremd war.