Seite 741 - Das Leben Jesu (1973)

Basic HTML-Version

Golgatha
737
Pilatus geführt worden. Beleidigungen und Mißhandlungen, Spott
und Hohn und die Qualen der zweimaligen Geißelung — die ganze
Nacht hindurch hatten sich die Ereignisse überstürzt, die dazu an-
getan waren, einen Menschen bis zum äußersten auf die Probe zu
stellen. Christus war nicht unterlegen. Er hatte kein Wort gespro-
chen, außer es diente zu Gottes Ehre. Während des ganzen Verhörs,
das nur eine schändliche Posse darstellte, hatte er eine feste, würdige
Haltung bewahrt. Als ihm aber nach der zweiten Geißelung das
schwere Kreuz aufgelegt wurde, vermochte die menschliche Natur
diese Last nicht mehr zu tragen. Ohnmächtig brach er zusammen.
Die Menge, die dem Heiland folgte, sah seine kraftlosen, tau-
melnden Schritte, aber sie half ihm nicht, sondern sie verhöhnte und
verspottete ihn, weil er das schwere Kreuz nicht tragen konnte. Aufs
neue legte man die Bürde auf ihn, und wieder fiel er entkräftet zu
Boden. Da erkannten seine Peiniger, daß es für ihn unmöglich war,
die Last noch weiter zu tragen. Sie waren darum verlegen, wer die
unwürdige Last tragen sollte. Ein Jude durfte es nicht tun; denn
die damit verbundene Verunreinigung hätte ihn vom Passahmahl
ausgeschlossen. Selbst von der nachfolgenden Menge würde sich
niemand so weit erniedrigen, das Kreuz zu tragen.
Da begegnete ein Fremder, Simon von Kyrene, der vom Lande
hereinkam, jener großen Schar. Er vernahm die spöttischen und
lästerlichen Reden der Menge; er hörte, wie immerzu verächtlich
gerufen wurde: Platz für den König der Juden! Bestürzt betrachtete
er dieses Geschehen, und als er sein Mitgefühl mit Christus äußerte,
ergriff man ihn und legte das Kreuz des Herrn auf seine Schultern.
Simon hatte schon von Jesus gehört. Seine Söhne glaubten an
den Heiland; aber er selbst gehörte nicht zu den Jüngern. Das Tragen
des Kreuzes nach Golgatha jedoch wurde ihm zum Segen, und er ist
später immer für diese Fügung dankbar gewesen. Sie war der Anlaß,
daß er das Kreuz Christi freiwillig auf sich nahm und es stets freudig
trug.
Nicht wenige Frauen befinden sich unter der Menge, die dem
unschuldig Verurteilten zur Kreuzigungsstätte folgt. Ihre Aufmerk-
samkeit ist ganz auf Jesus gerichtet. Einige von ihnen haben ihn
[743]
schon früher gesehen; manche haben ihre Kranken und Leiden-
den zu ihm gebracht oder sind selbst geheilt worden. Diese Frauen
wundern sich über den Haß, den die Menge des Volkes dem entge-