Seite 742 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
genbringt, dem sie zugetan sind und für den sie sich opfern würden.
Ungeachtet der Haltung jener rasenden Menschenmenge und der
zornigen Worte der Priester und Obersten geben sie ihrer Zuneigung
offen Ausdruck, und sie wehklagen laut, als Jesus unter der Last des
Kreuzes zusammenbricht.
Diese Anteilnahme war das einzige, was Christi Aufmerksam-
keit erregte, obwohl er selbst tiefstes Leid erduldete, während er die
Sündenlast dieser Welt trug, ließ ihn der Ausdruck des Kummers
dieser Frauen nicht gleichgültig. Er blickte sie mit herzlichem Erbar-
men an. Diese glaubten nicht an ihn, und er wußte, daß sie ihn nicht
als den von Gott Gesandten beweinten, sondern daß es nur menschli-
ches Mitgefühl war, das sie bekundeten. Er wies ihr Mitgefühl nicht
zurück; es erweckte vielmehr in ihm eine noch größere Anteilnahme
für sie. „Ihr Töchter von Jerusalem“, rief er ihnen zu, „weinet nicht
über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder.“
Lukas 23,28
. Von den vor seinen Augen sich abspielenden Gescheh-
nissen ausgehend, dachte Christus an die Zerstörung Jerusalems.
Während jener schrecklichen Zeit würden auch von diesen Frauen,
die jetzt über ihn weinten, viele mit ihren Kindern umkommen.
Von der Zerstörung Jerusalems wanderten seine Gedanken wei-
ter zu einem noch umfassenderen Gericht. In der Zerstörung der
unbußfertigen Stadt sah er ein Gleichnis für die endgültige Vernich-
tung, die über die ganze Welt kommen wird. So fuhr er fort: „Dann
werden sie anfangen, zu sagen zu den Bergen: Fallet über uns! und
zu den Hügeln: Decket uns! Denn so man das tut am grünen Holz,
was will am dürren werden?“
Lukas 23,30.31
. Mit dem grünen Holz
meinte er sich selbst, den unschuldigen Erlöser. Gott ließ seinen
Zorn über die Sünde der Menschheit auf seinen geliebten Sohn kom-
men, der dafür gekreuzigt werden mußte. Wieviel Leid müßten dann
die Sünder ertragen, die in der Sünde verharren? Die Unbußfertigen
und Ungläubigen würden einen Schmerz und eine Trübsal erleiden,
die sich nicht mit Worten beschreiben lassen.
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Eine große Anzahl derer, die dem Heiland auf seinem Weg nach
Golgatha folgten, hatte ihn bei seinem glorreichen Einzug in Jeru-
salem mit jubelnden Hosiannarufen begrüßt und Palmzweige ge-
schwungen. Nicht wenige, die ihn damals laut gepriesen hatten, weil
alle es taten, stimmten jetzt leidenschaftlich mit ein in den Ruf:
„Kreuzige, kreuzige ihn!“
Lukas 23,21
. An jenem Tage des Ein-