Seite 169 - Der gro

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Luther vor dem Reichstag
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Hus behandelt hatte, und ihn der Gnade und der Ungnade der Kirche
zu überlassen. Karl V. aber, der sich ins Gedächtnis zurückrief, wie
Hus in der öffentlichen Versammlung auf seine Ketten hingewiesen
und den Kaiser an seine verpfändete Treue erinnert hatte, erklärte
entschlossen: „Ich will nicht wie Sigismund erröten!
Karl hatte jedoch wohlüberlegt die von Luther verkündigten
Wahrheiten verworfen. „Ich bin“, schrieb der Herrscher, „fest ent-
schlossen, in die Fußtapfen meiner Ahnen zu treten.“ Er hatte ent-
schieden, nicht von dem Pfad des herkömmlichen Glaubens ab-
zuweichen, selbst nicht, um in den Wegen der Wahrheit und der
Gerechtigkeit zu wandeln. Weil seine Väter dem römischen Glauben
gefolgt waren, wollte auch er das Papsttum mit all seiner Grausam-
keit und Verderbtheit aufrechterhalten. Bei diesem Entscheid blieb
er, und er weigerte sich, irgendwelches weitere Licht, das über die
Erkenntnis seiner Väter hinausging, anzunehmen oder irgendeine
Pflicht auszuüben, die sie nicht ausgeübt hatten.
Viele halten heute in gleicher Weise an den Gebräuchen und
Überlieferungen der Väter fest. Schickt der Herr ihnen weiteres
Licht, so weigern sie sich, es anzunehmen, weil ihre Väter es auch
nicht angenommen hatten, ohne zu bedenken, daß es jenen gar nicht
gewährt worden war. Wir sind viel weiter vorwärts geschritten als
unsere Väter waren, infolgedessen sind unsere Pflichten und Verant-
wortlichkeiten auch nicht die gleichen. Gott wird es nicht gutheißen,
wenn wir auf das Beispiel unserer Väter blicken, statt das Wort der
Wahrheit für uns selbst zu untersuchen, um unsere Pflichten zu er-
kennen. Unsere Verantwortung ist größer als die unserer Vorfahren.
Wir sind verantwortlich für das Licht, das sie erhielten und das uns
als Erbgut zuteil wurde. Wir müssen aber auch Rechenschaft able-
gen über das neu hinzugekommene Licht, das jetzt aus dem Worte
Gottes auf uns scheint.
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Christus sagte von den ungläubigen Juden: „Wenn ich nicht
gekommen wäre und hätte es ihnen gesagt, so hätten sie keine Sünde;
nun aber können sie nichts vorwenden, ihre Sünde zu entschuldigen.“
Johannes 15,22
. Dieselbe göttliche Macht hatte durch Luther zum
Kaiser und zu den Fürsten Deutschlands gesprochen. Und als das
Licht aus dem Worte Gottes strahlte, sprach sein Geist für viele in
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Lenfant, „Histoire du concile de Constance“, Bd. I, 3.Buch, 404