Seite 207 - Das Leben Jesu (1973)

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Gefangenschaft und Tod des Johannes
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Erst kurze Zeit war vergangen, seit der Täufer auf Jesus hinge-
wiesen und verkündigt hatte: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches
der Welt Sünde trägt!“
Johannes 1,29
. „Der ist‘s, der nach mir kom-
men wird, des ich nicht wert bin, daß ich seine Schuhriemen auflöse.“
Johannes 1,27
. Und jetzt die Frage: „Bist du, der da kommen soll?“
Für menschliches Denken war das überaus bitter und enttäuschend.
Wenn selbst Johannes, der treue Wegbereiter, nicht in der Lage war,
Christi Aufgabe richtig zu erkennen, wie konnte das dann von der
eigensüchtigen Menge erwartet werden?
Der Heiland beantwortete die Frage der Jünger nicht spontan.
Während sie verwundert über sein Schweigen nachdachten, kamen
Kranke und Leidende zu ihm, um geheilt zu werden. Blinde erta-
steten sich ihren Weg durch das Volk. Leidende aller Art drängten
sich, manche aus eigener Kraft, andere von Freunden getragen, vol-
ler Verlangen in die Nähe Jesu. Die Stimme des mächtigen Arztes
erreichte das taube Ohr. Ein Wort, ein Berühren mit seiner Hand
öffnete die erblindeten Augen, so daß sie das Licht des Tages, die
Schönheit der Natur, die Gesichter ihrer Freunde und das Antlitz des
Erlösers schauen konnten. Jesus gebot der Krankheit Einhalt und
bannte das Fieber. Seine Stimme drang an die Ohren der Sterbenden,
und sie standen auf — gesund und kraftvoll. Besessene, die ihrer
selbst nicht mächtig waren, gehorchten seinem Wort, der Wahnsinn
wich von ihnen, und sie beteten ihn an. Während er Krankheiten
heilte, lehrte er das Volk. Die armen Bauern und Arbeiter, von den
Rabbinern als unrein gemieden, drängten sich um ihn, und er sprach
Worte des ewigen Lebens zu ihnen.
So verging der Tag, und die Jünger des Johannes sahen und hör-
ten das alles. Schließlich rief Jesus sie zu sich und gebot ihnen,
hinzugehen und Johannes zu berichten, was sie erlebt hatten. Dann
fügte er hinzu: „Selig ist, der nicht Ärgernis nimmt an mir.“
Mat-
thäus 11,6
;
Lukas 7,23
. Der Beweis seiner Göttlichkeit wurde darin
sichtbar, daß er sich der Nöte der leidenden Menschheit annahm. Sei-
ne Herrlichkeit zeigte sich darin, daß er sich zu unserer Niedrigkeit
herabließ.
Die Jünger überbrachten ihre Botschaft, und Johannes war zu-
frieden. Er erinnerte sich der messianischen Weissagung: „Der Geist
Gottes des Herrn ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat. Er
hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zer-
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