Seite 584 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Die Menge der Zuhörer wartete gespannt auf die entscheidende
Antwort. Sie wußten, daß die Priester bekannt hatten, die Sendung
des Täufers anzuerkennen, und sie erwarteten jetzt ihr Eingeständnis,
daß Johannes von Gott gesandt war. Nachdem die Priester sich
untereinander besprochen hatten, beschlossen sie, sich keine Blöße
zu geben. Heuchlerisch erklärten sie ihre Unkenntnis: „Wir wissen‘s
nicht.“ Da erwiderte Jesus: „So sage ich euch auch nicht, aus was
für Vollmacht ich solches tue.“
Markus 11,33
.
Die Schriftgelehrten, Priester und Obersten waren zum Schwei-
gen gebracht. Verwirrt und enttäuscht standen sie da mit gesenkten
Augen und wagten nicht, weitere Fragen an den Herrn zu stellen.
Durch ihre Feigheit und Unentschlossenheit hatten sie ihr Ansehen
bei dem Volk, das dabeistand und sich der Niederlage dieser stolzen,
selbstgefälligen Männer freute, in hohem Maße eingebüßt.
Alle diese Worte und Taten Jesu waren von besonderer Bedeu-
tung, und ihr Einfluß wurde in stetig wachsendem Maße nach seiner
Kreuzigung und Auferstehung spürbar. Viele von denen, die begie-
rig auf das Ergebnis der Befragung Jesu gewartet hatten, bekannten
sich später zu seiner Nachfolge, nachdem sie sich zum erstenmal an
jenem ereignisreichen Tag von seinen Worten angezogen fühlten.
Das Geschehnis auf dem Tempelhof entschwand nie mehr ihrem
Gedächtnis. Der Gegensatz zwischen Jesus und dem Hohenpriester
war, als sie miteinander sprachen, kennzeichnend. Reiche, kostbare
Gewänder kleideten den stolzen Würdenträger des Tempels; auf
seinem Haupte trug er eine glänzende Kopftracht, seine Haltung war
majestätisch, sein Haar und sein wallender Bart leuchteten silber-
weiß — seine ganze Erscheinung flößte Ehrfurcht ein. Vor dieser
erhabenen Persönlichkeit stand die Majestät des Himmels ohne je-
den Schmuck und ohne jede Prachtentfaltung. Seine Kleidung trug
noch die Spuren der Reise; sein Angesicht war bleich und gezeichnet
von innerem Kummer; dennoch standen Würde und Wohlwollen in
ihm geschrieben, die einen auffallenden Gegensatz zu dem stolzen,
selbstbewußten und zornigen Gebaren des Hohenpriesters bildeten.
Viele von denen, die Zeugen der Worte und Werke Jesu im Tempel
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gewesen waren, nahmen ihn von da an als Gesandten Gottes in ihr
Herz auf. Aber während sich die Teilnahme des Volkes immer mehr
ihm zuwandte, wuchs der Haß der Priester. Die Klugheit, mit der
Jesus den Fallen der Priester zu entgehen wußte, bezeugte aufs neue