Seite 737 - Das Leben Jesu (1973)

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Bei Pilatus
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die Verantwortung. Die Sünde und das Verderben eines ganzen
Volkes waren den religiösen Führern zuzuschreiben.
„Da aber Pilatus sah, daß er nichts ausrichtete, sondern vielmehr
ein Getümmel entstand, nahm er Wasser und wusch die Hände vor
dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig an seinem Blut; sehet ihr
zu!“
Matthäus 27,24
.
Scheu und voller Vorwürfe gegen sich selbst schaute er auf den
Heiland. Von den zahllosen Gesichtern, die auf ihn gerichtet waren,
zeigte allein das Antlitz Jesu inneren Frieden. Von seinem Haupt
schien ein sanftes Licht auszugehen. Pilatus bewegte in seinem Her-
zen den Gedanken: Er ist ein Gott! Dann wandte er sich der Menge
zu und erklärte: Ich will mit seinem Blut nichts zu tun haben. Nehmt
ihr ihn und kreuzigt ihn. Aber denkt daran, Priester und Oberste,
ich erkläre ihn zu einem gerechten Menschen! Möge der, den er als
seinen Vater anruft, euch und nicht mich für diesen Tag zur Rechen-
schaft ziehen. Darauf wandte er sich an Jesus und sagte: Vergib mir
diese Tat, aber ich kann dich nicht retten. Und nachdem er Jesus
noch einmal hatte geißeln lassen, übergab er ihn dem Kreuzestod.
Pilatus hätte Jesus gern freigegeben. Anderseits erkannte er, daß
er seine Freilassung nicht durchsetzen durfte, wenn er seine Stellung
und sein Ansehen behalten wollte. Lieber opferte er ein unschuldiges
Leben, als daß er seine irdische Machtstellung verlöre. Wie viele
opfern in gleicher Weise ihre Grundsätze, nur um Leid und Verlust
zu entgehen! Das Gewissen und die Pflicht weisen einen anderen
Weg als die eigensüchtigen Wünsche. Der Gang der Ereignisse treibt
in die falsche Bahn, doch wer sich mit dem Bösen einläßt, wird in
den Strudel der Schuld gerissen.
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Pilatus gab den Forderungen des Volkes nach. Er übergab den
Heiland lieber dem Kreuzestode, als Gefahr zu laufen, seine Stel-
lung zu verlieren. Ungeachtet seiner Vorsichtsmaßnahmen kam das
Unglück, das er befürchtete, später dennoch über ihn. Er wurde sei-
ner Ehre beraubt und seines hohen Amtes enthoben. Bald nach der
Kreuzigung Jesu machte er, von Gewissensbissen gequält und von
verletztem Stolz gedemütigt, seinem Leben ein Ende. So werden
alle, die mit der Sünde Kompromisse schließen, nur Sorgen und
Verderben ernten. „Manchem scheint ein Weg recht, aber zuletzt
bringt er ihn zum Tode.“
Sprüche 14,12
.