Seite 736 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
gaben. Pilatus, Herodes und die römischen Soldaten wußten verhält-
nismäßig wenig von Jesus. Sie gedachten den Priestern und Obersten
einen Dienst zu erweisen, indem sie den Heiland mißhandelten; sie
hatten nicht die Erkenntnis, die dem jüdischen Volk in so reichem
Maße vermittelt worden war.
Noch einmal schlug Pilatus vor, den Heiland freizulassen. Die Ju-
den aber schrien: „Läßt du diesen los, so bist du des Kaisers Freund
nicht.“
Johannes 19,12
. Auf diese Weise gaben jene Heuchler vor,
auf das Ansehen des Kaisers bedacht zu sein; in Wirklichkeit aber
waren sie die erbittertsten aller Gegner der römischen Herrschaft.
Wo ihnen kein Schaden daraus erwuchs, setzten sie ihre eigenen na-
tionalen und religiösen Belange rücksichtslos durch; wollten sie aber
irgendeine schändliche Tat begehen, dann rühmten sie die Macht
des Kaisers. Um die Vernichtung Jesu zu vollenden, beteuerten sie
ihre Ergebenheit gegenüber der fremden Macht, die sie in Wahrheit
verabscheuten.
„Wer sich zum König macht, der ist wider den Kaiser“ (
Johannes
19,12
), fügten sie hinzu. Diese Worte berührten Pilatus an einem
wunden Punkt. Er war der römischen Regierung bereits verdächtig
und wußte, daß ein derartiger Bericht sein Verderben bedeutete.
Auch war er sich darüber im klaren, daß sich der Zorn der Juden
gegen ihn richten würde, falls er ihre Absichten durchkreuzte. Sie
würden nichts unversucht lassen, um sich zu rächen. Pilatus sah sich
einem besonderen Beispiel der Hartnäckigkeit gegenüber, mit der
sie dem Einen nach dem Leben trachteten, den sie grundlos haßten.
Pilatus nahm nun seinen Richterplatz wieder ein, stellte Jesus
noch einmal vor das Volk und sagte: „Sehet, das ist euer König!“
Wiederum erhob sich ein wütendes Geschrei: „Weg, weg mit dem!
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Kreuzige ihn!“ Da fragte Pilatus so laut, daß alle ihn verstehen
konnten: „Soll ich euren König kreuzigen?“ Aus gottlosem, lästerli-
chem Munde kam die Antwort: „Wir haben keinen König denn den
Kaiser.“
Johannes 19,14.15
.
Indem die Juden sich zu einem heidnischen Herrscher bekannten,
hatten sie sich von der Gottesherrschaft losgesagt und Gott als ihren
König verworfen. Seitdem hatten sie keinen Befreier, keinen König
außer dem römischen Kaiser. Dahin hatten die Priester und Obersten
das Volk geführt; sie trugen dafür sowie für die fruchtbaren Folgen