Seite 735 - Das Leben Jesu (1973)

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Bei Pilatus
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Pilatus erschrak. Er besaß noch keine genaue Vorstellung von
Jesus und seiner Aufgabe; aber in ihm regte sich ein unbestimmbarer
Glaube an Gott und an Wesen, die mehr als Menschen sind. Ein
Gedanke, der ihn schon einmal beschäftigt hatte, nahm jetzt deutliche
Gestalt an. Er fragte sich, ob dieser Mensch, der vor ihm stand,
bekleidet mit dem Purpur des Spottes und der Krone aus Dornen,
nicht ein göttliches Wesen sein könne.
Erneut ging er zurück in das Richthaus und fragte den Herrn:
„Woher bist du?“
Johannes 19,9
. Jesus aber antwortete ihm jetzt
nicht. Der Heiland hatte offen mit Pilatus gesprochen und seine
Aufgabe als Zeuge für die Wahrheit erläutert; doch Pilatus hatte
das Licht verachtet. Er hatte sein hohes Richteramt mißbraucht,
indem er seine Grundsätze und seine Autorität den Forderungen
der Volksmenge opferte. Jesus konnte ihm keine weitere Erkenntnis
vermitteln. Über Jesu Schweigen verärgert, sagte Pilatus hochmütig:
„Redest du nicht mit mir? Weißt du nicht, daß ich Macht habe, dich
loszugeben, und Macht habe, dich zu kreuzigen?“
Jesus antwortete: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie
dir nicht wäre von oben her gegeben. Darum: der mich dir überant-
wortet hat, der hat größere Sünde.“
Johannes 19,10.11
.
So entschuldigte der mitleidvolle Erlöser inmitten seines größten
Leides und Schmerzes soweit als möglich die Handlungsweise des
römischen Statthalters, der ihn zur Kreuzigung auslieferte. Welch
ein Bild, das der Nachwelt für alle Zeit überliefert werden sollte!
Welch ein Licht wirft es auf den Charakter dessen, der der Richter
aller Welt ist!
„Darum: der mich dir überantwortet hat“, sagte Jesus, „der hat
größere Sünde.“ Damit meinte Jesus den Kaiphas, der als Hoher-
priester das jüdische Volk repräsentierte. Die Priester kannten die
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Grundsätze, die für die römischen Machthaber galten. Dazu besaßen
sie die Erkenntnis aus den Weissagungen, die sich auf den Messias
bezogen, sowie aus seinen eigenen Lehren und seinem Wirken. Die
jüdischen Richter hatten unmißverständliche Beweise für die Gött-
lichkeit dessen erhalten, den sie zum Tode verurteilten. Und nach
ihrer Erkenntnis werden sie gerichtet werden.
Die größte Schuld und die schwerste Verantwortung lastete auf
denen, die die höchsten Stellungen im Volke bekleideten, auf den
Hütern der heiligen Wahrheiten, die sie in schimpflicher Weise preis-