Seite 734 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Würde der Langmut. Einen auffälligen Gegensatz zu ihm bot der Ge-
fangene an seiner Seite. Jeder Gesichtszug des Barabbas offenbarte
den verstockten Raufbold, der er war. Dieser Unterschied zwischen
den beiden Gefangenen wurde allen Zuschauern deutlich. Viele
von ihnen weinten. Als sie auf Jesus blickten, waren ihre Herzen
voller Mitgefühl. Selbst die Priester und Obersten kamen zu der
Überzeugung, daß seine Haltung völlig seinem göttlichen Anspruch
entsprach.
Die römischen Soldaten, die Christus umgaben, waren nicht alle
rauh und hart; einige von ihnen suchten aufrichtig in dem Antlitz
Jesu nach einem Ausdruck, der auf ein verbrecherisches und all-
gemeingefährliches Wesen schließen ließe. Ab und zu warfen sie
auch einen geringschätzigen Blick auf Barabbas. Es bedurfte keines
besonders scharfen Blickes, um auf den Grund seiner Seele schauen
zu können. Doch dann ruhten ihre Augen wieder auf dem einen,
der unter Anklage stand. Der göttliche Dulder besaß ihr ungeteiltes
Mitleid. Seine stille Demut prägte sich ihnen ein wie ein Bild, das
niemals mehr verlöschen würde, bis sie ihn entweder als Christus
angenommen oder, indem sie ihn verwarfen, ihr eigenes Schicksal
besiegelt hätten.
Pilatus war äußerst verwundert über die grenzenlose Geduld Je-
su. Er hatte nicht daran gezweifelt, daß der Anblick dieses Mannes
— im Gegensatz zu Barabbas — die Sympathie der Juden erwecken
würde. Doch er verstand nicht den leidenschaftlichen Haß der Prie-
ster gegen den, der als das Licht der Welt ihre Finsternis und ihren
Irrtum offenbar gemacht hatte. Sie hatten das Volk zu irrer Wut
aufgestachelt, und erneut stimmten Priester, Oberste und das Volk
den entsetzlichen Ruf an: „Kreuzige! kreuzige!“ Da verlor Pilatus
die Geduld mit ihrer vernunftwidrigen Grausamkeit und rief ver-
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zweifelt aus: „Nehmt ihr ihn hin und kreuzigt ihn, denn ich finde
keine Schuld an ihm.“
Johannes 19,6
.
Der an Grausamkeiten gewöhnte römische Landpfleger hatte
Mitleid mit dem leidenden Gefangenen, der — verurteilt und gegei-
ßelt, mit blutender Stirn und mit zerschundenem Rücken — selbst
jetzt noch die Haltung eines Königs auf seinem Thron bewahrte.
Doch die Priester erklärten: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem
Gesetz muß er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn ge-
macht.“
Johannes 19,7
.