Seite 733 - Das Leben Jesu (1973)

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Bei Pilatus
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les Menschliche hinaus und offenbarten seine Verwandtschaft mit
Gott. Seine Erniedrigung war das Unterpfand seiner Erhöhung. Die
Blutstropfen seiner Schmerzen, die von seiner verwundeten Schlä-
fe auf Gesicht und Bart niederfielen, waren die Bürgschaft seiner
Salbung mit dem „Öl der Freude“ (
Hebräer 1,9
) als unser großer
Hoherpriester.
Satans Zorn wuchs, als er erkennen mußte, daß alle gegen den
Heiland gerichteten Schmähungen auch nicht die geringste Äu-
ßerung aus seinem Munde erzwingen konnten. Obwohl Jesus die
menschliche Natur angenommen hatte, wurde er durch eine göttliche
Kraft unterstützt und wich in keinem Fall von dem Willen seines
Vaters ab.
Als Pilatus Jesus der Geißelung und Verspottung auslieferte,
meinte er, damit das Mitleid der Volksmenge wecken zu können. Er
hoffte, sie würde entscheiden, daß diese Bestrafung genüge. Selbst
der Haß der Priester würde nun befriedigt sein, so dachte er. Aber die
Juden erkannten sehr deutlich, wie haltlos eine solche Bestrafung
eines Mannes sein mußte, der als unschuldig erklärt worden war. Sie
durchschauten den Versuch des Pilatus, das Leben des Gefangenen
zu retten, und waren fest entschlossen, eine Freilassung Jesu zu ver-
hindern. Um uns einen Gefallen zu tun und uns zufriedenzustellen,
hat Pilatus ihn geißeln lassen, so dachten sie. Wir müssen nur mit
allem Nachdruck unser Ziel anstreben, dann werden wir es am Ende
auch erreichen.
Pilatus ließ jetzt Barabbas zum Richthaus holen. Dann stellte er
die beiden Gefangenen nebeneinander und sagte mit ernster Stimme,
indem er auf Jesus deutete: „Sehet, welch ein Mensch!“ „Sehet, ich
führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennet, daß ich keine Schuld
an ihm finde.“
Johannes 19,4.5
.
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Da stand der Sohn Gottes, angetan mit dem Spottgewand und der
Dornenkrone. Bis zum Gürtel entblößt, zeigte sein Rücken lange,
entsetzliche Striemen, von denen das Blut in Bächen herunterrann.
Sein Gesicht war blutbefleckt und trug die Zeichen des Leidens und
der Erschöpfung; aber nie erschien es schöner als gerade jetzt. So wie
er seinen Feinden gegenüberstand, war sein Aussehen keineswegs
entstellt. Jeder Gesichtszug bekundete Sanftmut und Ergebenheit
und zärtliches Erbarmen mit seinen grausamen Feinden. In seinem
Wesen lag nicht etwa feige Schwäche, sondern die Kraft und die