Seite 216 - Patriarchen und Propheten (1999)

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Patriarchen und Propheten
Einwohner des Landes verjagen oder sich unter sie zerstreuen. Das
erstere konnten sie nicht, weil es nicht der Anordnung Gottes ent-
sprach. Und vermischten sie sich mit den Kanaanitern, gerieten sie
in Gefahr, zur Abgötterei verführt zu werden. In Ägypten aber waren
die Bedingungen zur Erfüllung der göttlichen Absicht gegeben. Dort
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stand ihnen ein gut bewässerter, fruchtbarer Teil des Landes offen
und bot günstige Gelegenheit für ihr schnelles Wachstum. Und die
Abneigung, der sie auf Grund ihrer Beschäftigung begegnen mußten
— „denn alle Viehhirten sind den Ägyptern ein Greuel“ (
1.Mose
46,34
) —, würde ihnen helfen, ein abgesondertes, für sich lebendes
Volk zu bleiben und sich vom Götzendienst Ägyptens fernzuhalten.
Als sie Ägypten erreichten, zogen sie sofort in das Land Gosen.
Dorthin kam Joseph in seinem Staatswagen in Begleitung fürstlichen
Gefolges. Aber vergessen waren gleich der Prunk seiner Umgebung
und die Würde seiner Stellung. Ihn erfüllte nur ein Gedanke, nur ein
Verlangen bewegte sein Herz. Als er die Reisenden herankommen
sah, konnte er seine sehnsüchtige Liebe, die er so viele Jahre hatte
unterdrücken müssen, nicht mehr bezwingen. Er sprang vom Wagen
und lief seinem Vater entgegen, um ihn zu begrüßen. „Und als er
ihn sah, fiel er ihm um den Hals und weinte lange an seinem Halse.
Da sprach Israel zu Joseph: Ich will nun gerne sterben, nachdem ich
dein Angesicht gesehen habe, daß du noch lebst.“
1.Mose 46,30
.
Joseph ließ sich von fünf seiner Brüder begleiten, um sie Pharao
vorzustellen und von ihm die Verleihung des Landes ihrer zukünfti-
gen Heimat zu erhalten. Aus Dankbarkeit gegenüber seinem obersten
Verwalter hätte der Monarch sie wohl mit der Ernennung zu Staats-
beamten geehrt. Aber Joseph, der treue Anbeter Jahwes, wollte seine
Brüder vor den Versuchungen bewahren, denen sie an einem heid-
nischen Hof ausgesetzt gewesen wären. Deshalb riet er ihnen, dem
König frei und offen ihre Beschäftigung zu nennen, wenn er danach
fragen würde. Jakobs Söhne folgten diesem Rat. Sie waren auch so
vorsichtig zu erklären, daß sie nur als Gäste im Lande verweilen
und keine ständigen Bewohner werden möchten. Damit behielten sie
sich das Recht vor, wegzuziehen, wann sie wollten. Der König wies
ihnen eine Heimat zu und gab ihnen, wie versprochen, das Land
Gosen, den „besten Ort des Landes“
1.Mose 47,6
.
Nicht lange nach ihrer Ankunft stellte Joseph dem König auch
seinen Vater vor. Der Patriarch war ein Fremdling an Königshöfen,