Seite 38 - Patriarchen und Propheten (1999)

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Patriarchen und Propheten
Adam begriff: seine Gefährtin hatte das einzige Verbot mißach-
tet, das Gott ihnen zur Prüfung ihrer Liebe und Treue auferlegte.
Ein furchtbarer Kampf ging in ihm vor. Er klagte sich an, daß er
Evas Entfernung von seiner Seite zugelassen hatte. Aber nun war
es geschehen. Jetzt mußte er sich von ihr trennen, die doch seine
ganze Freude gewesen war. Adam hatte sich der Gemeinschaft Got-
tes und seiner heiligen Engel erfreut. Er durfte die Herrlichkeit des
Schöpfers sehen. Und er begriff die hohe Bestimmung, die dem
Menschengeschlecht zugedacht war, wenn sie Gott treu blieben.
Doch verlor er alle diese Segnungen aus den Augen aus Furcht, das
eine Geschenk einzubüßen, das alle andern an Wert übertraf. Liebe,
Dankbarkeit und Treue gegenüber dem Schöpfer wurden verdrängt
durch die Gefühle für Eva. Sie war ein Teil von ihm, und der Gedan-
ke an Trennung war ihm unerträglich. Er machte sich nicht klar, daß
dieselbe Allmacht, die ihn aus Erdenstaub zu einer lebendigen, schö-
nen Gestalt erschuf und ihm in Liebe auch eine Gefährtin gab, deren
Platz wieder ausfüllen konnte. Er entschied sich dafür, ihr Schicksal
zu teilen. Wenn sie sterben mußte, wollte er mit ihr sterben. Konnten
nicht vielleicht auch die Worte der klugen Schlange wahr sein? Eva
stand so schön und scheinbar unschuldig vor ihm wie vor ihrem
Ungehorsam. Sie war noch liebevoller als zuvor. Kein Zeichen des
Todes erschien an ihr, und er beschloß, die Folgen seiner Tat auf sich
zu nehmen. Schnell nahm er die Frucht und aß.
Zuerst lebte auch Adam der Vorstellung, eine höhere Daseinsstu-
fe zu erreichen. Aber nur zu bald erfüllte ihn der Gedanke an seine
Sünde mit Entsetzen. Die Luft, die bis dahin mild und gleichmäßig
angenehm war, ließ das schuldige Paar erschauern. Liebe und Frie-
de waren dahin. Statt dessen ahnten sie, was Sünde ist, empfanden
Furcht vor der Zukunft und fühlten sich schutzlos. Das Lichtgewand,
das sie einhüllte, verschwand. Um es zu ersetzen, halfen sie sich mit
Schurzen aus Blättern. Denn sie konnten den Augen Gottes und der
heiligen Engel nicht unbekleidet begegnen.
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Jetzt erst fingen sie an, das wahre Wesen ihrer Sünde zu erkennen.
Adam machte seiner Gefährtin Vorwürfe wegen ihrer Torheit, sich
von ihm zu entfernen und von der Schlange umgarnen zu lassen.
Beide aber gaben sich der falschen Hoffnung hin, daß Gott, von
dem sie so viele Liebesbeweise erfahren hatten, ihnen diese eine