Seite 556 - Patriarchen und Propheten (1999)

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Patriarchen und Propheten
Sie stichelte wegen Hannas Kinderlosigkeit und behauptete, diese
sei ein Beweis göttlichen Mißfallens. So ging das Jahr für Jahr, bis
Hanna es nicht mehr ertragen konnte. Unfähig, ihren Kummer zu
verbergen, weinte sie hemmungslos und verließ die Feier. Vergeblich
suchte ihr Mann sie zu trösten. „Warum weinst du, und warum issest
du nichts? Und warum ist dein Herz so traurig?“ fragte er. „Bin ich
dir nicht mehr wert als zehn Söhne?“
1.Samuel 1,8
.
Hanna machte ihm keinen Vorwurf. Sie legte aber die Bürde, die
sie mit niemandem auf der Welt teilen konnte, Gott vor. Ernstlich
bat sie ihn, er möge doch die Schmach von ihr nehmen und ihr das
kostbare Geschenk eines Sohnes gewähren, den sie für ihn pflegen
und erziehen könne. Und sie gelobte feierlich, dieses Kind von
Geburt an dem Herrn zu weihen, wenn ihre Bitte erhört würde.
Hanna hatte sich dem Eingang der Stiftshütte genähert, und in der
Angst ihres Herzens „betete ... und weinte sie sehr“.
1.Samuel 1,10
.
Doch sie tat es still und sprach kein einziges lautes Wort dabei.
In jenen schlimmen Zeiten konnte man solche Gebetshaltung
selten wahrnehmen. Unehrerbietige Feiern und sogar Trunkenheit
waren selbst bei religiösen Festen nichts Ungewöhnliches mehr.
Als Eli, der Hohepriester, Hanna beobachtete, vermutete er darum,
sie habe zuviel Wein getrunken. Er war der Meinung, daß hier ein
verdienter Tadel angebracht sei, und sagte streng: „Wie lange willst
du betrunken sein? Gib den Wein von dir, den du getrunken hast!“
Gequält und erschreckt antwortete Hanna sanft: „Nein, mein
Herr! Ich bin ein betrübtes Weib; Wein und starkes Getränk hab ich
nicht getrunken, sondern mein Herz vor dem Herrn ausgeschüttet.
Du wollest deine Magd nicht für ein zuchtloses Weib halten, denn ich
hab aus meinem großen Kummer und Herzeleid so lange geredet.“
Der Hohepriester war tief bewegt, denn er war ein Mann Gottes;
und anstelle des Tadels segnete er sie nun: „Geh hin mit Frieden;
der Gott Israels wird dir die Bitte erfüllen, die du an ihn gerichtet
hast.“
1.Samuel 1,14-17
.
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Und Hannas Gebet wurde erhört; sie empfing, worum sie so
ernst gebetet hatte. Als sie ihr Kind erblickte, nannte sie es Samuel,
„von Gott erbeten“. Sobald der Kleine alt genug war, um von seiner
Mutter getrennt zu werden, erfüllte sie auch ihr Gelübde. Sie liebte
ihr Kind mit der ganzen Hingabe eines Mutterherzens. Tag für Tag
beobachtete sie seine Entwicklung, und wenn sie sein kindliches