Seite 706 - Patriarchen und Propheten (1999)

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Patriarchen und Propheten
David hatte Amnons Frevel nicht geahndet. Wegen dieser Pflicht-
vergessenheit des königlichen Vaters und der Unbußfertigkeit des
Sohnes ließ der Herr den Dingen ihren Lauf und hinderte Absalom
nicht. Wenn Eltern oder Vorgesetzte es versäumen, geschehenes Un-
recht zu bestrafen, wird Gott eingreifen. Er zieht seine bewahrende
Hand zurück, so daß im Zuge der Geschehnisse Sünde wieder durch
Sünde bestraft wird.
Davids ungerechtfertigte Nachsicht hatte noch weitere Folgen,
denn nun begann die Entfremdung zwischen Absalom und ihm.
Nach dessen Flucht zu Talmai hielt David es für notwendig, ihm für
sein Verbrechen eine derbe Lektion zu erteilen, und verweigerte ihm
deshalb die Erlaubnis zur Rückkehr. Aber das vermehrte die heillose
Verwirrung, in die der König geraten war, anstatt sie zu mindern.
Absalom war tatkräftig, ehrgeizig und — charakterlos. Als seine
Verbannung ihn von der Teilnahme an den Regierungsgeschäften
ausschloß, gab er sich bald gefährlichen Ränkespielen hin.
Nach zwei Jahren endlich beschloß Joab, eine Versöhnung zwi-
schen Vater und Sohn herbeizuführen. Dabei ließ er sich von einer
Frau aus Thekoa helfen, die wegen ihrer Klugheit geschätzt wurde.
Auf seinen Vorschlag stellte sie sich David als Witwe vor, deren
zwei Söhne ihr einziger Trost und ihre Stütze waren. Im Streit hatte
der eine den andern erschlagen, und nun forderten alle Verwandten,
daß der Überlebende dem Bluträcher ausgeliefert würde. „So wollen
sie“, sagte die Mutter, „auch den Erben vertilgen und den Funken
auslöschen, der mir noch übriggeblieben ist, so daß meinem Mann
kein Name und kein Nachkomme bleibt auf Erden.“
2.Samuel 14,7
.
Der König war bewegt und versprach der Frau seinen Schutz für
ihren Sohn.
Nachdem sie ihm wiederholt Zusagen für die Sicherheit des
jungen Mannes abgenötigt hatte, bat sie den König um Verzeihung
und sagte ihm, er habe sich selbst schuldig gesprochen, weil er
seinen verbannten Sohn nicht nach Hause zurückhole. „Denn wir
sterben des Todes“, sagte sie, „und sind wie Wasser, das auf die
Erde gegossen wird und das man nicht wieder sammeln kann; aber
Gott will nicht das Leben wegnehmen, sondern er ist darauf bedacht,
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daß das Verstoßene nicht auch von ihm verstoßen werde.“
2.Samuel
14,14
. Diese ergreifende Darstellung der Liebe Gottes zum Sünder,
die in Wirklichkeit von dem rauhen Krieger Joab stammte, beweist,