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Fortschritt der Reformation in Deutschland
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Same ging überall auf. In seiner Abwesenheit wuchs eine Bewe-
gung, die sich in seiner Anwesenheit niemals entfaltet hätte. Andere
Mitarbeiter fühlten jetzt, da der große Reformator verschwunden
war, eine ernste Verantwortlichkeit. Mit neuem Glauben und Eifer
strebten sie voran, um alles in ihrer Macht stehende zu tun, damit
das so vortrefflich begonnene Werk nicht gehindert würde.
Satan war jedoch auch nicht müßig. Er versuchte, was er bei
jeder andern Reformbestrebung versucht hatte — das Volk zu täu-
schen und zu verderben, indem er an Stelle des wahren Werkes
eine Nachahmung unterschob. Wie im ersten Jahrhundert der christ-
lichen Gemeinde immer wieder falsche Christusse aufstanden, so
erhoben sich auch im sechzehnten Jahrhundert verschiedene falsche
Propheten.
Etliche Männer, durch die Erregung in der religiösen Welt tief
ergriffen, bildeten sich ein, besondere Offenbarungen vom Himmel
erhalten zu haben, und erhoben den Anspruch, von Gott beauftragt
zu sein, das Werk der Reformation, das Luther nur eben erst begon-
nen hatte, zu vollenden. In Wahrheit rissen sie gerade das nieder, was
er aufgebaut hatte. Sie verwarfen den Hauptgrundsatz, die wahre
Grundlage der Reformation — das Wort Gottes als die allgenügsa-
me Glaubens- und Lebensregel —, und setzten an die Stelle jener
untrüglichen Richtschnur den veränderlichen, unsicheren Maßstab
ihrer eigenen Gefühle und Eindrücke. Dadurch wurde der große
Prüfstein des Irrtums und des Betrugs beseitigt und Satan der Weg
geöffnet, die Gemüter zu beherrschen, wie es ihm am besten gefiel.
Einer dieser Propheten behauptete, von dem Engel Gabriel unter-
richtet worden zu sein. Ein Student, der sich mit ihm zusammentat,
verließ seine Studien und erklärte, von Gott selbst die Weisheit
empfangen zu haben, die Schrift auslegen zu können. Andere, die
von Natur aus zur Schwärmerei neigten, verbanden sich mit ihnen.
Das Vorgehen dieser Schwarmgeister rief keine geringe Aufregung
hervor. Luthers Predigten hatten überall das Volk geweckt, um die
Notwendigkeit einer Reform einzusehen, und nun wurden manche
wirklich redlichen Seelen durch die Behauptungen der neuen Pro-
pheten irregeleitet.
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Die Anführer dieser Bewegung begaben sich nach Wittenberg
und nötigten Melanchthon und seinen Mitarbeitern ihre Ansprüche
auf. Sie sagten: „Wir sind von Gott gesandt, das Volk zu unterweisen.