Seite 190 - Der gro

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Kapitel 10: Fortschritt der Reformation in
Deutschland
Ganz Deutschland war bestürzt über Luthers geheimnisvolles
Verschwinden. Überall forschte man nach seinem Verbleib. Die
wildesten Gerüchte wurden in Umlauf gesetzt, und viele glaubten,
er sei ermordet worden. Es erhob sich großes Wehklagen, nicht
nur unter seinen offenen Freunden, sondern auch unter Tausenden,
die sich nicht öffentlich zur Reformation bekannt hatten. Manche
banden sich durch einen feierlichen Eid, seinen Tod zu rächen.
Die römischen Machthaber sahen mit Schrecken, bis zu welcher
Stärke die Stimmung gegen sie angeschwollen war. Obgleich sie
anfangs über den vermeintlichen Tod Luthers frohlockten, wünsch-
ten sie bald, sich vor dem Zorn des Volkes zu verbergen. Seine
Feinde waren durch die kühnsten Handlungen während seines Ver-
weilens unter ihnen nicht so beunruhigt worden wie durch sein
Verschwinden. Die in ihrer Wut den kühnen Reformator umbringen
wollten, wurden mit Furcht erfüllt, als er ein hilfloser Gefangener
war. „Es bleibt uns nur das Rettungsmittel übrig“, sagte einer, „daß
wir Fackeln anzünden und Luther in der Welt aufsuchen, um ihn
dem Volke, das nach ihm verlangt, wiederzugeben.
Der Erlaß des
Kaisers schien wirkungslos zu sein, und die päpstlichen Gesand-
ten zeigten sich entrüstet, als sie sahen, daß dem Erlaß des Kaisers
weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde als dem Schicksal
Luthers.
Die Kunde, daß er, wenngleich ein Gefangener, doch in Sicher-
heit sei, beruhigte zwar die Befürchtungen des Volkes, steigerte aber
noch dessen Begeisterung für ihn. Seine Schriften wurden mit grö-
ßerem Verlangen gelesen als je zuvor. Eine stetig wachsende Zahl
schloß sich der Sache des heldenmütigen Mannes an, der gegen
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eine so ungeheure Übermacht das Wort Gottes verteidigt hatte. Die
Reformation gewann fortwährend an Stärke. Der von Luther gesäte
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D‘Aubigné, „Geschichte der Reformation“, 9.Buch, 1.Abschnitt, 5
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