Seite 120 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
in den allgemeinen Wissenschaften bewandert waren. Sie durften
keine körperlichen Gebrechen haben, mußten verheiratet sein und
Kinder besitzen, um sich mehr als andere menschlich und rücksichts-
voll benehmen zu können. Ihr Versammlungsort war ein mit dem
Tempel verbundener Raum. Zur Zeit der jüdischen Unabhängigkeit
vertrat der Hohe Rat oder Sanhedrin, der sowohl weltliche als auch
geistliche Gewalt besaß, die höchste Gerichtsbarkeit des Volkes. Ob-
gleich er jetzt den römischen Statthaltern untergeordnet war, übte er
dennoch einen großen Einfluß in bürgerlichen und religiösen Fragen
aus.
Der Hohe Rat konnte nicht gut umhin, eine Untersuchung über
das Wirken des Täufers einzuleiten. Einige besannen sich auf die
Offenbarung des alten Zacharias im Tempel und erinnerten sich der
Weissagung, die den jungen Johannes als Vorläufer des Messias
gekennzeichnet hatte. In den Unruhen und Wechselfällen der letzten
dreißig Jahre hatte man diese Hinweise nahezu vergessen; nun aber
gedachte man ihrer in der Erregung, die durch die Predigt des Täufers
entstanden war.
Es war schon geraume Zeit her, seit in Israel ein Prophet gewirkt
und das Volk eine Umwandlung erlebt hatte, wie sie sich jetzt wieder
vorbereitete. Das Gebot, die Sünden zu bekennen, schien neu und
überraschend. Die meisten Mitglieder des Hohen Rates scheuten
sich hinzugehen und die Warnrufe und Anklagen des Täufers selbst
anzuhören. Sie fürchteten, von Johannes ihres sündhaften Lebens
überführt zu werden. Unverkennbar war die Predigt des Täufers eine
unmittelbare Ankündigung des Messias. Es war wohl bekannt, daß
die siebzig Wochen aus der Weissagung Daniels, welche die Ankunft
des Messias einschlossen, fast verflossen waren, und jeder wollte an
dem Zeitalter der nationalen Herrlichkeit, das dann erwartet wurde,
Anteil haben. Die Begeisterung des Volkes war derart, daß sich
der Hohe Rat veranlaßt sah, dem Wirken des Johannes entweder
zuzustimmen oder es zu verwerfen. Die Macht des Rates über das
Volk war schon bedenklich ins Wanken geraten, und es ergab sich
die ernste Frage, wie seine Autorität gewahrt werden konnte. In der
Hoffnung, zu irgendeinem Entschluß zu kommen, sandte man eine
Abordnung von Priestern und Leviten an den Jordan, um sich mit
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dem neuen Lehrer zu befassen.