Seite 170 - Das Leben Jesu (1973)

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Kapitel 19: Am Jakobsbrunnen
Auf der Grundlage von
Johannes 4,1-42
.
Auf dem Wege nach Galiläa gelangte Jesus auch nach Samaria.
Es war mittags, als er das schöne Tal Sichem erreichte, an dessen
Eingang der Jakobsbrunnen lag. Ermüdet von der Reise, ließ sich der
Heiland zur Rast nieder, während die Jünger hingingen, um Speise
zu kaufen.
Die Juden und die Samariter waren bittere Feinde und vermieden
es, so gut es möglich war, miteinander in Berührung zu kommen. Die
Rabbiner erlaubten nur für den Notfall, in Handelsverbindung mit
den Samaritern zu treten; jeder gesellige Umgang mit ihnen aber war
verpönt. Jede Freundlichkeit oder gefällige Handlung, selbst einen
Trunk Wasser oder ein Stück Brot, lehnte der Jude ab. Durchaus in
Übereinstimmung mit dieser Sitte ihres Volkes kauften die Jünger
lediglich die notwendige Speise. Weiter gingen sie nicht. Von einem
Samariter irgendeine Gunst zu erbitten oder nach einer Wohltat zu
trachten, lag selbst den Jüngern Christi fern.
Jesus saß durch Hunger und Durst ermattet am Brunnen. Er
hatte mit seinen Jüngern seit dem Morgen eine lange Wanderung
hinter sich, dazu schien jetzt die heiße Mittagssonne voll hernieder.
Sein Durstgefühl verstärkte sich bei dem Gedanken, daß kühles,
erfrischendes Wasser ihm so nahe und doch unerreichbar war, da er
weder Strick noch Krug hatte und der Brunnen eine erhebliche Tiefe
besaß. Er teilte das Los aller menschlichen Kreatur, und er wartete,
bis jemand käme, um Wasser zu schöpfen.
Da kam eine Frau aus Samaria zum Brunnen und füllte ihren
Krug mit Wasser; aber sie schien Jesu Gegenwart nicht zu bemerken.
Als sie sich wieder zum Gehen wandte, bat der Heiland sie um einen
Trunk. Eine solche Bitte würde kein Orientale abschlagen. Im Mor-
genland galt das Wasser als Gottesgabe. Dem durstigen Wanderer
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einen Trunk zu reichen, wurde als eine so heilige Pflicht angesehen,
daß die Araber der Wüste keine Mühe scheuten, um sie zu erfüllen.
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