Seite 171 - Das Leben Jesu (1973)

Basic HTML-Version

Am Jakobsbrunnen
167
Die Feindschaft, die zwischen Juden und Samaritern bestand, hielt
jedoch die Frau davon ab, Jesus eine Freundlichkeit zu erweisen;
doch der Heiland suchte das Herz dieser Frau zu gewinnen, indem er
mit allem Feingefühl, aus göttlicher Liebe heraus, um eine Gunst bat,
statt eine zu gewähren. Ein Anerbieten hätte abgeschlagen werden
können, Zutrauen aber erweckt Zutrauen. Der König des Himmels
kam zu dieser ausgestoßenen Seele und bat um einen Dienst von
ihrer Hand. Er, der den Ozean werden ließ, der dem Wasser der
großen Tiefe gebot; er, der die Quellen der Erde öffnete, ruhte müde
am Jakobsbrunnen und war selbst um einen Trunk Wasser auf die
Freundlichkeit einer Fremden angewiesen.
Die Frau sah, daß Jesus ein Jude war. In ihrer Überraschung
vergaß sie, den Wunsch des Heilandes zu erfüllen, versuchte jedoch,
dessen Ursache zu erfahren. „Wie bittest du von mir zu trinken, der
du ein Jude bist, und ich ein samaritisch Weib?“
Jesus antwortete: „Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer
der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn, und er gäbe
dir lebendiges Wasser.“
Johannes 4,9.10
. Du wunderst dich, daß ich
dich um eine so geringe Gunst wie um einen Trunk Wasser aus dem
Brunnen zu unsern Füßen bitte; hättest du mich gebeten, würde ich
dir von dem Wasser des ewigen Lebens gegeben haben.
Das Weib verstand Jesu Worte nicht; aber sie fühlte deren ern-
ste Bedeutung. Ihr leichtes, herausforderndes Wesen änderte sich.
Sie sagte, in der Annahme, Jesus spräche von dem Wasser dieses
Brunnens: „Herr, hast du doch nichts, womit du schöpfest, und der
Brunnen ist tief; woher hast du denn lebendiges Wasser? Bist du
mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat?
Und er hat daraus getrunken ...“
Johannes 4,11.12
. Sie sah nur einen
müden Wanderer vor sich, verstaubt und durstig, und verglich ihn
in Gedanken mit dem verehrten Patriarchen Jakob. Sie glaubte, und
das ist ja ein ganz natürliches Gefühl, daß kein anderer Brunnen
dem gleichen könnte, den die Vorväter gebaut hatten. Sie sah zurück
in die Zeit der Väter und schaute vorwärts auf das Kommen des
Messias. Und dabei stand die Hoffnung der Väter — der Messi-
[169]
as — bei ihr, und sie kannte ihn nicht. Wie viele durstige Seelen
befinden sich heute in unmittelbarer Nähe der lebendigen Quelle,
dennoch suchen sie die Lebensquelle in der Ferne! „Sprich nicht in
deinem Herzen: ‚Wer will hinauf gen Himmel fahren¿ — nämlich