Seite 25 - Das Leben Jesu (1973)

Basic HTML-Version

Das auserwählte Volk
21
dern sie sonderten sich von der Welt ab, um so der Versuchung zum
Götzendienst zu entgehen. In den Unterweisungen, die Gott ihnen
durch Mose erteilt hatte, war der Umgang Israels mit Götzenanbe-
tern eingeschränkt worden. Diese Belehrungen wurden nun falsch
ausgelegt. Israel sollte zwar durch sie daran gehindert werden, sich
nach heidnischen Bräuchen zu richten; doch jetzt dienten sie dazu,
zwischen sich und den Heiden einen Wall aufzubauen. Jerusalem
war in den Augen der Juden der Himmel, und Eifersucht erfüllte sie
bei dem Gedanken, Gott könnte den Heiden Gnade erweisen.
Nach ihrer Rückkehr aus Babylon widmeten die Juden der re-
ligiösen Unterweisung große Aufmerksamkeit. Überall im Lande
errichteten sie Synagogen, in denen Priester und Schriftgelehrte das
Gesetz auslegten. Sie gründeten auch Schulen, auf denen neben den
Künsten und Wissenschaften angeblich auch die Grundsätze wahrer
Frömmigkeit gelehrt wurden. Diese Institutionen gerieten jedoch
in Verfall; denn während der Gefangenschaft hatten viele Israeliten
heidnische Vorstellungen und Bräuche übernommen, die sie nun in
den Gottesdienst einschleusten. In vielen Dingen paßten sie sich den
Gewohnheiten der Götzendiener an.
Als sich die Juden von Gott abwandten, verloren sie weitge-
hend das Verständnis für die Bedeutung des Opferdienstes, der von
Christus selbst eingeführt worden war. In allen seinen Teilen war
dieser Dienst ein Sinnbild auf Jesus hin und von Kraft und geistlicher
Schönheit erfüllt. Den Juden kam nun die geistliche Sinngebung
ihrer Zeremonien abhanden, und so klammerten sie sich an tote
Formen. Sie setzten ihr Vertrauen auf die bloßen Opfer und Bräu-
che statt auf den, auf den diese hinwiesen. Um diesen Verlust zu
ersetzen, vervielfältigten die Priester und Rabbiner die eigenen An-
forderungen, und je strenger diese wurden, desto weniger fand sich
die Liebe Gottes in ihnen. Gradmesser ihrer Frömmigkeit war die
Anzahl ihrer kultischen Handlungen, ihre Herzen aber waren voller
Stolz und Heuchelei.
[21]
Bei all diesen peinlich genauen und lästigen Vorschriften war
es unmöglich, das Gesetz wirklich zu halten. Wer Gott dienen und
dabei den Regeln der Rabbiner gehorchen wollte, plagte sich unter
einer schweren Last ab. Er konnte vor den Anklagen seines geängste-
ten Gewissens nicht zur Ruhe kommen. Auf diese Weise versuchte
Satan, das Volk mutlos zu machen, die Vorstellung vom Wesen Got-