Seite 369 - Das Leben Jesu (1973)

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Eine Nacht auf dem See
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sie, veranlasse ihn, diese Ehre auszuschlagen. Möge doch das Volk
seinen Befreier erheben, dann werden die hochmütigen Priester und
Obersten gezwungen sein, den mit göttlicher Macht ausgestatteten
Heiland zu ehren.
Es werden nun eilig Vorbereitungen getroffen, diesen Plan aus-
zuführen. Doch der Herr bemerkt ihre Absicht und kennt besser als
das Volk die Folgen einer solchen Handlung. Schon jetzt trachten
die Priester und Obersten ihm nach dem Leben und beschuldigen
ihn, daß er das Volk gegen sie aufwiegele. Der Versuch des Volkes,
ihn auf den Thron zu setzen, würde nur Gewalttat und Aufruhr nach
sich ziehen und das geistliche Reich in Gefahr bringen. Dieser Ent-
wicklung mußte umgehend Halt geboten werden. Jesus ruft seine
Jünger und befiehlt ihnen, sofort das Boot zu besteigen und nach
Kapernaum zurückzufahren, während er selbst das Volk entlassen
werde.
Noch nie zeigten die Jünger so wenig Neigung, der Anordnung
ihres Herrn nachzukommen. Sie hatten schon lange auf einen allge-
meinen Volksaufstand gehofft, um Jesus auf den Thron zu heben.
Sie konnten sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß
diese Begeisterung ohne Erfolg bleiben sollte. Die zum Passahfest
versammelte Volksmenge wollte den neuen Propheten sehen, und
den Jüngern schien die Zeit gekommen, ihren geliebten Meister auf
den Thron zu heben. In dieser Begeisterung wurde es ihnen wirklich
schwer, ohne Jesus fortzugehen und ihn an diesem einsamen Platz
zurückzulassen. Sie wagten Einwände gegen seinen Befehl; aber der
Herr sprach nun mit solcher Autorität, wie er sie ihnen gegenüber
noch nie gezeigt hatte. Sie wußten jetzt, daß ihr weiteres Wider-
streben nutzlos sein würde, und wandten sich schweigend dem See
zu.
Jesus gebietet nun der Menge, sich zu zerstreuen. Sein Auftre-
ten ist so bestimmt, daß sich niemand zu widersetzen wagt. Die
Worte des Lobes und der Begeisterung ersterben auf ihren Lippen;
die Schritte derer, die ihn greifen wollen, verhallen, und der frohe,
lebhafte Blick weicht aus ihren Augen. Es befinden sich Männer mit
starkem Willen und fester Entschlossenheit unter der Menge; doch
die königliche Haltung Jesu und die wenigen ruhigen und befehlen-
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den Worte unterdrücken jeden Tumult und vereiteln ihre Absichten.