Seite 416 - Das Leben Jesu (1973)

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Das Leben Jesu
Augen waren auf das Näherliegende gerichtet, auf das irdische Le-
ben in Armut und Erniedrigung und unter schweren Leiden. Mußten
sie ihre glühenden Erwartungen vom messianischen Reich aufge-
ben? Sollten sie ihren Herrn nicht auf dem Thron Davids sehen?
War es denn möglich, daß der Heiland wie ein einfacher, heimat-
loser Wanderer leben mußte, um schließlich verachtet, verworfen
und getötet zu werden? Tiefe Traurigkeit überfiel ihre Herzen; denn
sie liebten ihren Meister. Zweifel beunruhigten ihr Gemüt; denn es
erschien ihnen unbegreiflich, daß der Sohn Gottes solch grausamen
Demütigungen ausgesetzt werden sollte. Sie fragten sich, warum er
freiwillig nach Jerusalem ginge, um das Schicksal zu erleiden, das
ihn dort, wie er ihnen gesagt hatte, erwartete. Wie konnte er ein sol-
ches Verhängnis auf sich nehmen und sie in noch größerer Finsternis
zurücklassen, als jene gewesen ist, in der sie herumtappten, ehe er
sich ihnen offenbart hatte!
Die Jünger meinten, daß Jesus für Herodes und Kaiphas in der
Gegend von Cäsarea Philippi unerreichbar wäre. Dort hätte er we-
der den Haß der Juden noch die Macht der Römer zu fürchten.
Warum konnte er nicht dort, weit entfernt von den Pharisäern, wir-
ken? Warum sollte er sich selbst dem Tode überantworten? Wenn
er sterben mußte, wie konnte dann sein Reich so unverrückbar auf-
gerichtet werden, daß die Pforten der Hölle es nicht überwältigen
würden? Das alles war ihnen ein großes Geheimnis.
Gerade jetzt fuhren sie an den Ufern des Galiläischen Meeres
entlang und näherten sich der Stadt, in der alle ihre Hoffnungen
zerschlagen werden sollten. Sie erlaubten sich dem Herrn gegen-
über keine Einwendungen; aber untereinander sprachen sie leise
und in tiefer Betrübnis über die Zukunft. In all ihren Zweifeln aber
klammerten sie sich an den Gedanken, daß irgendein unvorherge-
sehenes Ereignis das Schicksal, das ihren Herrn erwartete, wenden
möge. So trauerten, zweifelten, hofften und fürchteten sie sechs
lange, trübselige Tage hindurch.
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