Seite 493 - Das Leben Jesu (1973)

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Der barmherzige Samariter
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die Propheten ruhten. Diese Antwort, die Christus lobte, brachte
den Erlöser gegenüber den Rabbinern in eine bessere Position. Sie
konnten ihn dafür, daß er das gutgeheißen hatte, was von einem
Ausleger des Gesetzes geäußert worden war, nicht verurteilen.
„Tue das, so wirst du leben“, sagte Jesus. Er stellte das Gesetz
als eine göttliche Einheit hin und lehrte hierdurch, daß es unmöglich
sei, die eine Verordnung zu halten und die andere zu verachten;
denn für alle gelte der gleiche Grundsatz. Der Gehorsam gegen
das ganze Gesetz bestimme das Schicksal des Menschen. Völlige
Liebe zu Gott und selbstlose Nächstenliebe seien die unerläßlichen
Voraussetzungen für ein christliches Leben.
Der Schriftgelehrte erkannte sich als Übertreter des Gesetzes;
Jesu tiefschürfende Worte hatten ihn davon überzeugt. Die Gerech-
tigkeit des Gesetzes, die er zu verstehen glaubte, hatte er nicht geübt;
er hatte seine Mitmenschen nicht geliebt. Tiefe Reue war nötig;
doch statt Buße zu tun, versuchte er sich zu rechtfertigen. Statt die
Wahrheit anzuerkennen, versuchte er zu zeigen, wie schwer die Er-
füllung des Gesetzes sei. So hoffte er sein Gewissen zu beruhigen
und sich vor dem Volk zu rechtfertigen. Jesu Worte hatten deutlich
gemacht, wie unnötig seine Frage gewesen war, da er sie sich selbst
beantworten konnte. Dennoch fragte er weiter: „Wer ist denn mein
Nächster?“
Lukas 10,29
.
Diese Frage verursachte gerade unter den Juden langatmige Er-
örterungen. Was ihr Verhältnis zu den Heiden und Samaritern betraf,
so hatten sie keine Zweifel; diese waren Fremde und Feinde. Wo
aber bestand ein Unterschied innerhalb ihres eigenen Volkes, wo
ein Unterschied zwischen den verschiedenen Klassen? Wen sollte
der Priester, der Rabbiner, der Älteste als Nächsten ansehen? Ihr
ganzes Leben verbrachten sie unter sorgfältigster Beachtung ihrer
Satzungen, Verordnungen und gottesdienstlichen Gebräuche; da-
durch wollten sie sich rein erhalten. Sie glaubten sich durch das
Zusammensein mit der unwissenden und sorglosen Menge zu be-
schmutzen und zur Reinigung dann beschwerliche Anstrengung
nötig zu haben. Sollten sie etwa auch einen „Unreinen“ als ihren
Nächsten betrachten?
Auch jetzt weigerte sich Jesus, zu diesen Streitfragen Stellung
zu nehmen. Er tadelte nicht die Frömmelei derer, die ihn arglistig
beobachteten, um ihn verdammen zu können, sondern er erklärte
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