Seite 97 - Das Leben Jesu (1973)

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Die Taufe
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den. Niemand auf Erden hatte ihn verstanden; noch während seines
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Dienstes mußte er allein wandeln. Seine Mutter und seine Brüder
hatten seiner Aufgabe kein Verständnis entgegenbringen können.
Selbst seine Jünger begriffen ihn nicht. Er hatte im ewigen Licht
gewohnt, eins mit Gott; in seinem irdischen Leben jedoch mußte er
einsam und allein gehen.
Schicksalsverbunden mußte er die Last unserer Schuld und unse-
res Elends mit uns tragen. Der Sündlose mußte die ganze Schmach
der Sünde fühlen. Der Friedfertige mußte inmitten von Zank und
Streit leben; die Wahrheit mußte bei der Falschheit, die Reinheit bei
dem Laster wohnen. Jede Sünde, jeder Mißklang, jedes verderbliche
Verlangen, das die Übertretung mit sich brachte, quälte ihn.
Der Heiland mußte seinen Weg allein wandeln; allein mußte er
die schwere Last tragen. Auf ihm ruhte die Erlösung der Welt, ob-
wohl er seiner göttlichen Herrlichkeit entkleidet war und die schwa-
che menschliche Natur angenommen hatte. Er sah und empfand
alles und blieb doch seiner Aufgabe treu. Von ihm hing das Heil des
gefallenen Menschengeschlechts ab, und er streckte die Hand aus,
um die allmächtige Liebe Gottes zu ergreifen.
Jesu Blick schien den Himmel zu durchdringen, während er
betete. Er wußte, wie sehr die Sünde die Herzen der Menschen
verhärtet hat und wie schwer es für sie sein würde, seine Mission
zu erkennen und die Heilsgabe anzunehmen. Er bat den Vater um
Kraft, ihren Unglauben zu überwinden, die Fesseln zu sprengen,
die Satan um sie gelegt hat, und um ihretwillen den Verderber zu
besiegen. Er bat um einen Beweis, daß Gott die Menschen durch
den Menschensohn wieder in Gnaden annehmen wolle.
Nie zuvor hatten die Engel ein solches Gebet gehört. Sie ver-
langten danach, ihrem Herrn eine Botschaft tröstlicher Gewißheit
zu bringen. Aber der Vater selbst wollte die Bitte seines Sohnes
beantworten. Vom Throne Gottes her leuchtete strahlend seine Herr-
lichkeit. Der Himmel öffnete sich, und eine Lichtgestalt „wie eine
Taube“ ließ sich auf des Heilandes Haupt herab als ein Sinnbild für
ihn, den Sanftmütigen und Demütigen.
Außer Johannes sahen nur wenige aus der gewaltigen Menschen-
menge am Jordan die himmlische Erscheinung. Dennoch ruhte der
feierliche Ernst der Gegenwart Gottes auf der großen Versamm-
lung. Alle schauten schweigend auf Christus. Seine Gestalt war
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