Seite 128 - Der gro

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Der große Kampf
Jeden Augenblick, den er von seinen täglichen Pflichten erübri-
gen konnte, verwandte er aufs Studium; er gönnte sich wenig Schlaf
und nahm sich kaum die Zeit für seine bescheidenen Mahlzeiten.
Vor allem andern erfreute ihn das Studium des Wortes Gottes. Er
hatte an der Klostermauer angekettet eine Bibel gefunden und zog
sich oft zu ihr zurück. Je mehr er von seinen Sünden überzeugt
wurde, desto stärker suchte er durch eigene Werke Vergebung und
Frieden zu erlangen. Er führte ein außerordentlich strenges Leben
und bemühte sich, das Böse seines Wesens, von dem sein Mönchs-
tum ihn nicht zu befreien vermocht hatte, durch Fasten, Wachen und
Kasteien zu besiegen. Er schreckte vor keinem Opfer zurück, das
ihm möglicherweise zur Reinheit des Herzens verhelfen könnte, die
ihm vor Gott Anerkennung brächte. „Wahr ist‘s, ein frommer Mönch
bin ich gewesen, und habe so gestrenge meinen Orden gehalten, daß
ich‘s sagen darf: ist je ein Mönch gen Himmel gekommen durch
Möncherei, so wollte ich auch hineingekommen sein; denn ich hätte
mich (wo es länger gewährt hätte) zu Tode gemartert mit Wachen,
Beten, Lesen und anderer Arbeit.
Infolge dieser schmerzhaften
Zucht wurde er immer schwächer und litt an Ohnmachtsanfällen,
von deren Auswirkungen er sich nie ganz erholte. Aber trotz aller
Anstrengungen fand seine angsterfüllte Seele keine Erleichterung,
sondern wurde immer verzweifelter.
Als es Luther schien, daß alles verloren sei, erweckte Gott ihm
einen Helfer und Freund. Der fromme Staupitz öffnete seinem Ver-
ständnis das Wort Gottes und riet ihm, seine Aufmerksamkeit von
sich selbst abzulenken und mit den Betrachtungen über eine ewi-
ge Strafe für die Übertretung des Gesetzes Gottes aufzuhören und
auf Jesus, seinen sündenvergebenden Heiland, zu schauen. „Statt
dich wegen deiner Sünden zu kasteien, wirf dich in die Arme des
Erlösers. Vertraue auf ihn — auf die Gerechtigkeit seines Lebens
— auf die Versöhnung in seinem Tode. Horch auf den Sohn Gottes.
Er ist Mensch geworden, dir die Gewißheit seiner göttlichen Gunst
zu geben.“ — „Liebe ihn, der dich zuerst geliebt hat.
So sprach
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dieser Bote der Gnade. Seine Worte machten tiefen Eindruck auf
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Luther, EA, XXXI, 273
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Walch, „D. Martin Luthers sämtliche Schriften“, II 264