Seite 159 - Der gro

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Luther vor dem Reichstag
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ermüdet von der Reise, die zwei Wochen in Anspruch genommen
hatte; er mußte sich auf die wichtigsten Ereignisse des morgigen
Tages vorbereiten und brauchte Stille und Ruhe. Das Verlangen, ihn
zu sehen, war jedoch so groß, daß er sich nur einiger Ruhestunden
erfreut hatte, als sich Edelleute, Ritter, Priester und Bürger um ihn
sammelten. Unter ihnen waren viele der Adligen, die vom Kaiser so
kühn eine Reform der kirchlichen Mißbräuche verlangt hatten, und
die, wie Luther sich ausdrückte, „alle durch mein Evangelium frei
geworden waren“. Feinde wie Freunde kamen, um den furchtlos-
kühnen Mönch zu sehen; er empfing sie mit unerschütterlicher Ruhe
und antwortete allen mit Würde und Weisheit. Seine Haltung war fest
und mutig; sein bleiches, abgezehrtes Gesicht, das die Spuren der
Anstrengung und Krankheit nicht verleugnen konnte, zeigte einen
freundlichen, ja sogar freudigen Ausdruck. Die Feierlichkeit und der
tiefe Ernst seiner Worte verliehen ihm eine Kraft, der selbst seine
Feinde nicht gänzlich widerstehen konnten. Freund und Feind waren
voller Bewunderung. Manche waren überzeugt, daß ein göttlicher
Einfluß ihn begleite; andere erklärten, wie die Pharisäer hinsichtlich
Christi, er habe den Teufel.
Am folgenden Tag wurde Luther aufgefordert, vor dem Reichs-
tag zu erscheinen. Ein kaiserlicher Beamter sollte ihn in den Emp-
fangssaal führen; nur mit Mühe erreichte er diesen Ort. Jeder Zugang
war mit Schaulustigen verstopft, die den Mönch sehen wollten, der
es gewagt hatte, der Autorität des Papstes zu widerstehen.
Als Luther vor seine Richter treten wollte, sagte ein Feldherr, der
Held mancher Schlacht, freundlich zu ihm: „Mönchlein, Mönchlein,
du gehst jetzt einen Gang, einen Stand zu tun, dergleichen ich und
mancher Oberster auch in unsern allerernstesten Schlachtordnungen
nicht getan haben; bist du auf rechter Meinung und deiner Sache
gewiß, so fahre in Gottes Namen fort und sei nur getrost, Gott wird
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dich nicht verlassen.
Endlich stand Luther vor dem Reichstag. Der Kaiser saß auf dem
Thron. Er war von den erlauchtesten Persönlichkeiten des Kaiser-
reichs umgeben. Nie zuvor war je ein Mensch vor einer bedeutsame-
ren Versammlung erschienen als jene war, vor welcher Martin Luther
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Spangenberg, Cyriakus, „Adelsspiegel“, III 54. Der Landsknechtsführer Georg von
Frundsberg hatte Luther mit den zitierten Worten ermutigend auf die Schulter geklopft.