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Luther vor dem Reichstag
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Ich könnte ohne vorherige Überlegung leicht weniger behaupten als
die Sache erfordere, oder mehr als der Wahrheit gemäß wäre, und
durch das eine und andere jenem Urteile Christi verfallen: Wer mich
verleugnet vor den Menschen, den werde ich vor meinem himmli-
schen Vater auch verleugnen.
Matthäus 10,33
. Deshalb bitte ich von
Kaiserlicher Majestät aufs alleruntertänigste um Bedenkzeit, damit
ich ohne Nachteil für das göttliche Wort und ohne Gefahr für meine
Seele dieser Frage genugtue.
Luther handelte sehr klug, daß er dieses Gesuch stellte. Sein Be-
nehmen überzeugte die Versammlung, daß er nicht aus Leidenschaft
oder bloßem Antrieb handle. Solche Ruhe und Selbstbeherrschung,
die man von einem, der so kühn und unnachgiebig war, nicht er-
wartet hätte, erhöhten Luthers Stärke und befähigten ihn später, mit
einer Vorsicht, Entschiedenheit, Weisheit und Würde zu antworten,
daß seine Gegner überrascht und enttäuscht, ihre Anmaßung und ihr
Stolz aber beschämt wurden.
Am nächsten Tag sollte er erscheinen, um seine endgültige Ant-
wort zu geben. Als er sich die gegen die Wahrheit verbündeteten
Mächte nochmals vor Augen führte, verließ ihn für einen Augen-
blick der Mut. Sein Glaube schwankte, Furcht und Zittern ergriffen
ihn, und Grauen lastete auf ihm. Die Gefahren vervielfältigten sich
vor seinen Augen, seine Feinde schienen zu siegen und die Mächte
der Finsternis die Oberhand zu gewinnen. Wolken sammelten sich
um ihn und drohten ihn von Gott zu trennen. Er sehnte sich nach
der Gewißheit, daß der Herr der Heerscharen mit ihm sei. In seiner
Seelennot warf er sich mit dem Angesicht auf die Erde und stieß
jene gebrochenen herzzerreißenden Angstrufe aus, die Gott allein in
der Lage ist, völlig zu verstehen.
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Er betete: „Allmächtiger, ewiger Gott! Wie ist es nur ein Ding
um die Welt! Wie sperrt sie den Leuten die Mäuler auf! Wie klein
und gering ist das Vertrauen der Menschen auf Gott ... und siehet
nur allein bloß an, was prächtig und gewaltig, groß und mächtig ist
und ein Ansehen hat. Wenn ich auch meine Augen dahin wenden
soll, so ist‘s mit mir aus, die Glocke ist schon gegossen und das
Urteil gefällt. Ach Gott! o du mein Gott, stehe du mir bei wider alle
Welt, Vernunft und Weisheit. Tue du es; du mußt es tun, du allein.
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Luther, EA, LXIV 377ff; op. lat. XXXVII 5-8