Seite 364 - Der gro

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Der große Kampf
im elterlichen Hause stattfindenden Gesprächen gelauscht, wenn
sich dort täglich fromme Juden einfanden, um die Hoffnungen und
Erwartungen ihres Volkes, die Herrlichkeit des kommenden Messias
und die Wiederaufrichtung Israels zu besprechen. Als der Knabe
eines Tages den Namen Jesus von Nazareth hörte, fragte er, wer das
sei. Die Antwort lautete: „Ein höchst begabter Jude; weil er aber
vorgab, der Messias zu sein, verurteilte ihn das jüdische Gericht zum
Tode.“ — „Warum ist Jerusalem zerstört“, fuhr der Fragesteller fort,
„und warum sind wir in Gefangenschaft?“ — „Ach“, antwortete der
Vater, „weil die Juden die Propheten umbrachten.“ Dem Kind kam
sofort der Gedanke: „Vielleicht war auch Jesus von Nazareth ein
Prophet, und die Juden haben ihn getötet, obgleich er unschuldig
war.
Dies Gefühl war so stark, daß er, obwohl es ihm untersagt war,
eine christliche Kirche zu betreten, doch oft draußen stehenblieb,
um der Predigt zuzuhören.
Als er erst sieben Jahre alt war, prahlte er vor einem betagtem
christlichen Nachbar von dem zukünftigen Triumph Israels beim
Kommen des Messias, worauf der alte Mann freundlich sagte: „Mein
Junge, ich will dir sagen, wer der wirkliche Messias war: Es war
Jesus von Nazareth, ... den deine Vorfahren kreuzigten, wie sie
vorzeiten auch die Propheten umbrachten. Geh heim und lies das
53. Kapitel des Jesaja, und du wirst überzeugt werden, daß Jesus
Christus der Sohn Gottes ist.“
Wolff war sofort davon überzeugt, ging nach Hause, las den
betreffenden Abschnitt und gewahrte mit Verwunderung, wie voll-
kommen dieser in Jesus von Nazareth erfüllt worden war. Konnten
die Worte des Christen wahr sein? Der Knabe bat seinen Vater um
eine Erklärung der Weissagung; dieser aber trat ihm mit einem so
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finsteren Schweigen entgegen, daß er es nie wieder wagte, darauf zu-
rückzukommen. Immerhin verstärkte sich hierdurch sein Verlangen,
mehr von der christlichen Religion zu erfahren.
Die Erkenntnis, die er suchte, wurde in seinem jüdischen Fami-
lienkreis sorgfältig von ihm ferngehalten; aber als er elf Jahre alt
war, verließ er seines Vaters Haus, um in die Welt hinauszugehen,
sich eine Ausbildung zu verschaffen und Religion und Beruf zu
wählen. Er fand eine Zeitlang bei Verwandten Unterkunft, wurde
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Wolff, „Reiseerfahrungen“, Bd. I, 6f.