Seite 63 - Der gro

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Der Abfall
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priester beanspruchte auch die Macht, Kaiser absetzen zu können,
und erklärte, daß kein von ihm verkündeter Rechtsspruch von irgend
jemand umgestoßen werden könne, während er berechtigt sei, die
Beschlüsse anderer aufzuheben.
Einen schlagenden Beweis seines despotischen Charakters lie-
ferte dieser Befürworter der Unfehlbarkeit in der Behandlung des
deutschen Kaisers Heinrich IV. Weil dieser Fürst gewagt hatte, die
Macht des Papstes zu mißachten, wurde er in den Kirchenbann ge-
tan und für entthront erklärt. Erschreckt über die Untreue und die
Drohungen seiner eigenen Fürsten, die in ihrer Empörung gegen ihn
durch den päpstlichen Erlaß ermutigt wurden, hielt Heinrich es für
notwendig, mit Rom Frieden zu schließen. In Begleitung seiner Ge-
mahlin und eines treuen Dieners überschritt er im Winter die Alpen,
um sich vor dem Papst zu demütigen. Als er das Schloß Canossa,
wohin Gregor sich zurückgezogen hatte, erreichte, wurde er ohne
seine Leibwache in einen Vorhof geführt, und dort erwartete er in
der strengen Kälte des Winters mit unbedeckten Haupt und nackten
Füßen, bekleidet mit einem Büßergewand, die Erlaubnis des Papstes,
vor ihm erscheinen zu dürfen. Erst nachdem er drei Tage mit Fa-
sten und Beichten zugebracht hatte, ließ sich der Papst herab, ihm
Verzeihung zu gewähren, und selbst dann geschah es nur unter der
Bedingung, daß der Kaiser seine (des Papstes) Genehmigung abwar-
te, ehe er sich aufs neue mit dem Zeichen seiner Würde schmücke
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oder sein Königtum ausübe. Gregor aber, durch seinen Sieg kühn
gemacht, prahlte, daß es seine Pflicht sei, den Stolz der Könige zu
demütigen.
Wie auffallend ist der Unterschied zwischen der Überheblichkeit
dieses Priesterfürsten und der Sanftmut und Milde Christi, der sich
selbst als der an der Tür des Herzens um Einlaß Bittende darstellt,
damit er einkehren kann, um Vergebung und Frieden zu bringen,
und der seine Jünger lehrt: „Wer da will der Vornehmste sein, der
sei euer Knecht.“
Matthäus 20,27
.
Die folgenden Jahrhunderte zeugen von einer beständigen Zu-
nahme des Irrtums in den von Rom ausgehenden Lehren. Schon
vor der Aufrichtung des Papsttums war den Lehren heidnischer Phi-
losophen Aufmerksamkeit geschenkt worden, und sie hatten einen
gewissen Einfluß in der Kirche ausgeübt. Viele angeblich Bekehrte
hingen noch immer an den Lehrsätzen ihrer heidnischen Philoso-